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1 Der Duft von gebackenem Brot

Bevor ich von Wahnsinnigen entführt wurde, die mich zu ihrem Gott machen wollten, durchlebte ich eine längere Krise. Ich wusste, Xenia würde mich verlassen, aber ich wusste nicht, wann und wie sie das tun würde. Die Luft kam mir zu dünn vor. Alle atmeten ein und aus, als wäre nichts, nur rund um mich herrschte Sauerstoffmangel.
Xenia war die erste gewesen, die mich wie einen normalen Kerl behandelte. Ob ich der Enkel des Präsidenten oder des chinesischen Kaisers war, kümmerte sie nicht. Für sie machte es keinen Unterschied, ob ich fünf oder sechs Finger hatte. Wobei ich lieber der chinesische Enkel gewesen wäre oder fünf Finger gehabt hätte wie jeder andere.
Mein sechster Finger – insgesamt besaß ich zwölf, hatte also gegenüber den Mitmenschen einen Vorsprung von zwei Stück – sah aus wie die übrigen. Keine Deformierung wie bei einer Hasenscharte, keine Behinderung wie bei einem steifen Bein. Der sechste Finger war einwandfrei gewachsen und funktionsfähig. Trotzdem zählte jeder meine zwölf sauberen Nägel ab. Man kannte die Anomalie von Abbildungen auf den Klatschseiten. Ich hatte sie von meinem Großvater Major Koegl geerbt, und der war immerhin US-Präsident gewesen.
Xenias Hand passte perfekt in meine. Sie hatte wunderschöne Hände mit zehn Fingern. Manchmal zählte ich sie vor dem Einschlafen ab. Das Ergebnis, Ausgangspunkt für das Dezimalsystem, beruhigte mich.
„Wenn du mit mir zusammen sein willst, müssen wir die Stadt wechseln”, hatte sie vor vier Jahren gefordert, weil sie wusste, ich hätte den Kontinent gewechselt.
„Was ist falsch an Wilmington?”
„Keiner weiß, wo dieses Kaff beginnt oder endet. Es hat nicht einmal ein gutes Programmkino.”
Plötzlich kam es mir lächerlich vor, das halbe Leben am südwestlichen Zipfel des Großraums Philadelphia verbracht zu haben, in Wilmington/Delaware, mit 70.000 Einwohnern Metropole des zweitkleinsten Bundesstaats.
Wir entschieden uns für Tacoma. Die Stadt lag bei Seattle, an der Westküste, auf der anderen Seite des Kontinents, und sie hatte zehn Theater und zwanzig Kinos. Ich hasste Theater und Kino, doch es tat gut zu wissen, dass es dreißig Spielstätten gab. Im Gebäude einer Bäckerei bezogen wir das halbe Dachgeschoß. Frühmorgens lag der Duft nach frischem Brot in der Luft.
Unsere Fensterfront zeigte auf den Mount Rainier. Im Winter war er von Wolken verhüllt. Dieser Schichtvulkan war vor zweitausend Jahren letztmals aktiv gewesen. Der Mount Rainier hieß nach einem europäischen Offizier, der das Land nie betreten hatte. Alle nannten ihn Mount Tacoma.
Oft schwebten Drachenflieger über dem Vorland des Kaskadengebirges. Aus unserer Perspektive erschien es, als würden Fliegen den Gipfel in Zeitlupe umkreisen. Ich zählte die Tropfen an der Scheibe, während Xenia langweilige CDs mit Ambientmusik spielte. Bei hundertzwanzig Tropfen gab ich auf. Hundertzwanzig Tropfen waren meine persönliche Grenze. Sobald sie überschritten war, bedeutete es für mich, dass es in Tacoma regnete.


2 Meine Probleme möchte ich haben

Manchmal starre ich auf meine Hände. Sie haben nie gemordet. Sie sind makellos. Und dennoch unterscheiden sie mich von den Menschen da draußen.
Das Problem beginnt hinter Daumen und Zeigefinger: Wie soll man meinen dritten Finger, von innen gerechnet, bezeichnen? Gewiss nicht Mittelfinger, in der Mitte befindet er sich nicht. Danach würde der Ringfinger kommen, den man mit gleichem Recht Mittelfinger nennen könnte. Ich trage keinen Ring. Erstens möchte ich nicht auf meine Anomalie hinweisen, zweitens habe ich nie verstanden, warum man sich mit metallischen Gegenständen schmückt. Als nächstes käme der kleine Finger, der bei mir beinahe Mittelfingergröße hat. Daneben befindet sich mein wirklich kleinster Finger, also der Außenfinger.
Die Perfektion meiner zwölf Finger irritiert mich. Für jeden von ihnen gibt es gute Argumente. Es ist beim besten Willen nicht zu erkennen, welcher der Eindringling ist. Der Fachbegriff lautet Polydaktylie, im speziellen Fall Hexadaktylie, eine genetische Abweichung von der normalen Fünfstrahligkeit.
Eltern und Ärzte zogen eine Amputation nicht in Betracht. Major Koegl hatte es mit zwölf Fingern zum Präsidenten gebracht, sein Enkel brauchte also diese Besonderheit nicht zu verleugnen.
„Man soll kein sinnloses Gemetzel anrichten, junger Freund”, meinte Dr. Petrosjan an meinem vierzehnten Geburtstag, „es ist eine Ehre, nach diesem Großvater zu geraten.”
Nach wem ich auch geriet, ich empfand Major Koegl als den Fremdesten dieser an Sonderlingen reichen Familie. Trotz der gemeinsamen Hexadaktylie sprachen wir kaum miteinander. Wenn andere etwas sagten, hörte er nicht hin, er versuchte nie, Kontakt aufzunehmen. Seine Frau Christl nahm mich immerhin auf den Schoß, sang Lieder und duftete nach Apfelblüten. Die anderen sagten, sie plappere nur wirres Zeug, doch ich hielt sie für den einzig vernünftigen Menschen in meiner Umgebung.
Obwohl mir Beweise fehlen, halte ich es bis heute für wahrscheinlich, dass Christl ermordet wurde. Wenn ich mir unsicher bin, schreibe ich Briefe an sie. Sie sind an eine Frau gerichtet, die einen Mann mit zwölf Fingern geheiratet hat, und sie haben einen Vorteil: Sie müssen nicht abgeschickt werden, die Adressantin ist tot.
„Wenn du groß bist, wirst du ein großer Präsident”, war der Kommentar meiner Eltern.
„Deine Probleme möchten wir haben”, sagten meine ersten Freundinnen, wenn ich meine Hexadaktylie verfluchte, „und deinen Großvater auch.“
Mit neun Jahren steckte ich meine rechte Hand in einen Fleischwolf der Kantine des Novgor-Instituts, aber sie wurde gerettet. Man schickte mich auf eine Farm in Delaware. Der mir beigestellte Psychologe erklärte, die Zufuhr frischer Luft werde meine Unruhe stillen. Eine Eisenbahnlinie kreuzte das Farmgebiet. Ich erzählte dem Psychologen, dass ich in einem Traum meine Hände auf die Schienen gelegt hatte. Ich wollte, dass der Zug zwei Finger abfuhr, und mein Vorhaben nannte ich „das Koeglopfer“. Man schickte mich nach Wilmington zurück.
Erst Xenia verstand meine Traurigkeit. Sie nannte mich „kleines Monster” und erfand Namen für jeden meiner zwölf Finger. Am Abend im Bett, wenn wir Wolken und bunte Drachenflieger am Mount Tacoma betrachteten, gab sie mir ihre Hände zum Spielen. Ich bewunderte ihre Vollkommenheit.
„Manche kriegen zu wenig, du hast zu viel bekommen”, tröstete sie mich.
„Meine Probleme möchte ich haben”, gab ich zurück, dann lachten wir, und mir war zum Weinen.
In der Universitäts-Bibliothek von Seattle arbeiteten Xenia und ich die gängigen Monstren der Literaturgeschichte durch, die Zyklopen, Quasimodo, das Geschöpf des Dr. Frankenstein. Ich las medizinische Abhandlungen über primäre Struktureffekte und kannte mehr Fehlbildungen als Bundesstaaten.
Im Lesesaal beschäftigte ich mich mit dem Duodezimalsystem. Einige Fanatiker schlugen einen weltweiten Umstieg auf Zwölferpotenzen vor. Mit der mehrfach teilbaren Zahl 12 könne man müheloser rechnen als mit 10. Hatte mein Problem mit Zahlen zu tun? Mich überkam ein heftiger Widerwille gegen die Zahl Sechs und ihre Vielfachen.
Solange fünf Finger vorherrschten, waren Vorstöße zwecklos. Meine Geschicklichkeit beim Durchblättern der Bücher erzürnte mich. Die Finger arbeiteten mit der flinken Routine eines Krüppels, und jeder Student mit Bibliotheksausweis durfte sie anstarren. Ich hatte Pech. Außer dem Gesicht waren die Hände der einzige menschliche Körperteil, der in geschlossenen Räumen immer nackt war.

3 Die legendären sechs Zehen
   der Marilyn Monroe

Wenn ich nicht Regentropfen zählte, saß ich vor InDesign und Photoshop und entwarf Kampagnen für Hewlett Packard oder Häagen Dazs, die ich als unernste Spielereien betrachtete.
„Bewirb dich als Freelancer”, meinte Xenia, „solange man ernst darüber spricht, kann man ruhig unernst sein.”
Vor dem 30. Geburtstag war mein Leben ein Chaos gewesen. Durch die Rücklagen meines Großvaters hätte ich ein halbes Jahrhundert existieren können, doch ich wollte nachprüfen, ob ich wie die anderen war. Nach einem Vorstellungsgespräch bei Public Crazy Wardrobe bekam ich meinen ersten Auftrag.
Mein Name, mein Gesicht und meine Finger sorgten für Aufsehen. Einige Kollegen starrten mir bei der Arbeit auf die Hände, um zu sehen, ob der Präsidentenenkel im Zwölffingersystem schrieb. Ich konzipierte eine Kampagne für ein Haselnussjoghurt. Ich entwickelte ein Logo für einen Steinkohle-Frachtbetrieb. Ich stritt mit einer jungen Kollegin über den Glaubenskampf zwischen den Benutzern von QuarkXPress und InDesign, obwohl wir im Grunde den gleichen Standpunkt vertraten.
In Tacoma zog ich erstmals die Möglichkeit einer Operation in Betracht. Es würde jedoch schwierig sein, einen Arzt mit Verständnis für meine Herz-Unterfunktion aufzutreiben. Die Dosierung der Narkosemittel war bei empfindlichen Patienten eine Gratwanderung. Ich fürchtete, dass mich der Anästhesist entweder beim Intubieren ersticken ließ, oder dass er die analgetische Komponente zu niedrig dosierte.
Xenia hielt das, was sie „Mikas leicht hysterische Veranlagung” nannte, für einen idealen Schutz gegenüber Chirurgen, die sich am Präsidentenenkel profilieren wollten. Wie allen leichtfertigen Menschen ging ihr das Einfühlungsvermögen für Herzängste ab. Sie lachte, wenn ich meinen unregelmäßigen Pulsschlag zur Sprache brachte. Dennoch verschaffte sie mir mit Hilfe unseres Hausarztes Dr. Tabor einen Termin in der Universitätsklinik von Seattle.
Dr. Oberkofler, Abteilung Plastische Chirurgie, ein drahtiger Mann mit einer außergewöhnlich hohen Stimme, wusste gleich, welcher Finger der überflüssige war:
„Wir amputieren jeweils den sechsten Strahl Ihrer Überschussbildung”, schlug Dr. Oberkofler vor, „nach einer Woche verlassen Sie die Klinik mit zehn Fingern.”
Die Wunde würde rasch verheilen, doch würden an den Außenseiten meiner Hände zwei „konvexe Unebenheiten” sichtbar bleiben.
„Die Anlage Ihrer Sechsstrahligkeit wird man weiterhin erkennen“, meinte Dr. Oberkofler und nahm einen Schluck von seinem Milchkaffee, „aber nur die wenigsten werden das merken.“
Ich war mir nicht so sicher. Bestimmt wollte der bekannteste plastische Chirurg Seattles den Enkel von Major Koegl nur unter sein Skalpell bringen, um die Handchirurgen an der Ostküste zu beeindrucken. Außerdem konnte mir niemand sagen, ob ich mit zehn Fingern zurecht kommen würde.
Früher war Xenia der Idee einer Operation skeptisch gegenüber gestanden. Ich solle selbst entscheiden, ob ich mich meiner Herkunft stellen oder sie verleugnen wollte. Je näher der Zeitpunkt unserer Trennung rückte, desto pragmatischer argumentierte sie.
„Wenn du dich in deiner Haut unwohl fühlst, lass es wegmachen.”
Das klang nicht so wie damals, als wir Beispiele für erfolgreiche hexadaktyle Existenzformen zusammengetragen hatten – die legendären sechs Zehen der Marilyn Monroe und die polydaktyle Katzenrasse Maine Coon. Wir spekulierten längst nicht mehr über den autosomal dominanten Erbgang mit variabler Expression, also über den Grund dafür, dass mir Major Koegl seine zwölf Finger weitergegeben hatte.
Wir hatten ein Leben wie viele Paare geführt, bevor sie Kinder kriegen und versehentlich in ein anderes Leben hineingeraten. Ich wäre das Risiko eingegangen, doch im Alter von vierzehn hatte Xenia eine chronische Eileiterentzündung gehabt.
„Die Tube, so nennt man den Eileiter, wurde verklebt, also die Verbindung zwischen Eierstock und Gebärmutter”, so erklärte sie das. „Seitdem habe ich keinen Ort, wo Ei und Samen zusammentreffen können.”
Ich fragte mich manchmal, ob sie die Geschichte wirklich jedem erzählen musste.
Der Karate-Trainer Lagonikakis war mein einziger Bekannter in Tacoma. Er betrieb ein griechisches Diner am Stadtrand. Sein Spezialgebiet war japanische Philosophie, vielleicht, weil er Cheeseburger zubereitete. Ihm behagte der Gedanke, einen Karatekämpfer mit zwölf Fingern auszubilden. Lagonikakis zeigte angenehmes Desinteresse an meiner Familie. Wir führten Debatten über Karate und über die Auslegung der sieben Dojo-Eide, und ich half ihm beim Design der neuen Speisekarte des Lagonikakis Diner.
Arbeitskollegen traf ich keine. Ich verachtete die Art- und Kreativdirektoren mit ihren Helmut-Lang-Anzügen. Mein Leben setzte sich aus Public Crazy Wardrobe, Karate und Xenia zusammen, die allerdings, im Gegensatz zu mir, Leute kennenlernte.
„Heute hast du geschwiegen”, sagte Xenia nach einem Abend mit ihren sogenannten Freundinnen.
Donna, Jane und Joan arbeiteten in ihrer Film-Produktionsfirma und schwärmten von Typen in Anzügen vom Schnitt meiner Art- und Kreativdirektoren.
„Solche Gespräche langweilen mich.”
„Gespräche sind so langweilig wie man selbst. Du könntest Themen finden.”
Laut Xenia benahm ich mich in der Öffentlichkeit nicht wie der Enkel eines demokratischen Präsidenten, sondern wie der eines Diktators. Sie verlegte die Treffen mit ihren Freundinnen in ein kantonesisches Lokal. Einmal träumte ich, sie verbrachte die Abende nicht mit Donna, Jane und Joan, sondern mit einem Kreativdirektor von Public Crazy Wardrobe. Als ich im Traum zufällig das Lokal betrat, saßen sie unter dem Tisch und küssten einander.
Xenia würde mich verlassen: Zuerst war es eine Ahnung. Ich sprach sie darauf an. Sie stritt es ab. Auf ihrer Wange zuckte ein Muskel. Xenia war so gut wie weg, sie überlegte nur noch, wie sie es anstellen sollte.