NIL, Roman, 192 Seiten, EUR 14,90

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Textprobe aus dem Roman

NIL

MONTAG, 5. Juli 2010

01

Die Sonne drückt 15 Stunden lang auf die Stadt. Irgendwann während dieser Zeit muss der Kerl vor meiner Wohnung gewesen sein. Er hat den Zettel an die Tür geklebt und ist wieder verschwunden.
Am Nachmittag sitze ich in einem Haarstudio mit Air-Condition und lasse mir eine Glatze rasieren.
Erklärt man einem schlechten Friseur – es gibt keine guten Friseure – seine Wünsche, dann drängt er einem zuerst den Modeschnitt auf. Er kann gar nicht anders, sein Geschäft beruht auf den Selbstzweifeln der Frau.
Wer dem eigenen Spiegel Fluchen und Heulen ersparen will, sollte seine Vorstellungen gnadenlos durchsetzen. Ich zum Beispiel möchte eine Glatze. Erwartungsgemäß muckt der Friseur auf. Wieso Zöpfe abschneiden? Affenschaukeln liegen doch voll im Trend! Man kann sogar Fun-Plaits daraus machen! Ich erkläre ihm, dass Affenschaukeln und Fun-Plaits definitiv peinlich geworden sind. Außerdem soll er scheren und den Mund halten.
Zur gleichen Zeit ziehen sich im Städtischen Freibad Gänsehäufel die meisten Badegäste hässliche Hautrötungen zu. Zwei Menschen kollabieren. Die Hitze hat auch den Wiener Asphalt beschädigt. Mehrere hundert Kubikmeter des Straßenbelags sind in zähflüssigem Zustand in die Kanalisation gesickert und haben den Lebensraum des Rattus Norvegicus, auch bekannt als Rotbraune Wanderratte, verwüstet. 15 Stunden Sonneneinstrahlung, das ist viel. Das Intervall zwischen Sonnenauf- und Untergang beträgt sogar am längsten Tag des Jahres nicht mehr als 16 Stunden und fünf Minuten.
Der Kerl, der den Zettel an meine Tür geklebt hat, muss im Stiegenhaus ziemlich geschwitzt haben.
Kurz gesagt, die Stadt ist zum Eierbraten.

02

Am Brunnenmarkt kaufe ich eine Stange Porree. Ich kann nicht widerstehen. Neben einem Lauchgewächs sehen die fetten bunten Kugeln, Tomaten und Äpfel, einigermaßen bäuerlich aus.
Der türkische Gemüseverkäufer glotzt mir auf die Brüste. Männer haben das in der DNA. Sein Vater, ebenfalls türkischer Gemüseverkäufer, glotzt auf die gleiche verbissene Art.
Ob er den Porree in der Mitte durchschneiden soll? Nein. Mir missfällt der Gedanke, dass eine Ware, die bereits mir gehört, von ihrem früheren Besitzer zerschnitten wird. Fünf Stockwerke weiter oben, das weiß ich schon vorher, wird mein Appetit auf Lauchgewächse fort sein. In meiner Wohnung herrscht ein extrem ungünstiges Mikroklima für Porree.

Die Porreestange drängt ungeduldig gegen die Eingangstür, so als wollte sie vor mir hinein. Im Türspalt klemmt ein Zettel. Mit Filzstift in großen Blockbuchstaben steht geschrieben: Auch wenn du mich vergessen hast, ich habe nichts vergessen. Kein Absender, keine Unterschrift. Sieht nach einem blöden Scherz aus. Ich drehe mich langsam um. Auf einmal erscheint mir das Stiegenhaus mit den Spinnweben in den unübersichtlichen Winkeln bedrohlich.

Ich deponiere den Porree im Kühlschrank und nehme eine Dose aus dem Caninikarton. Ihr Inhalt riecht nach Gulasch mit Sägespänen. Schmutz schmiegt sich an meine Beine und miaut. Beim Anblick von Edelkatz Canini wird sein Hals einen halben Meter länger. Seine Zunge ist rosa wie ein Block Pressschinken.
Schmutz miaut immer nur aus Gier. Sobald ich ihn ohne Hilfsmittel zum Miauen ermuntere, gibt er keinen Ton von sich. "Du kriegst gleich dein Edelkatz."
Auch wenn du mich vergessen hast, ich habe nichts vergessen. Wen zum Teufel kann ich vergessen haben, der nichts vergessen hat? Mir fallen einige Schulkollegen ein, mit denen ich zusammen gewesen bin und irgendwann nicht mehr zusammen sein wollte. Schwer vorstellbar, dass einer von ihnen verliebt oder verletzt genug ist, um nach so langer Zeit einen so kläglichen Vorstoß zu unternehmen. Eine Frau steckt bestimmt nicht dahinter. Frauen sind vielleicht heimtückisch genug, um anonyme Zettel an Türen zu kleben, aber sie klopfen keine dummen Sprüche.

Unterhalb des Fensters gleiten zwei rot-silberne U6-Garnituren in makelloser Schärfe aneinander vorbei. Das Echo der Druckwelle schwappt herauf. Acht Fahrspuren, die Ubahnlinie U6, zwei Tramways, zwei Würstelstände und dazu der Tumult aus den Gürtellokalen. Viele Leute wundern sich, wie ich es am Lerchenfelder Gürtel 304 ertrage. Sie wissen nicht, dass das Ertragen von der Einstellung abhängt. Der Verkehr klingt wie die Brandung eines Ozeans. Andere würden nach wenigen Minuten mit einem Obstmesser auf ihren Psychiater losgehen, aber mich beruhigt dieser Aufruhr. Er passt gut zu meinem inneren Pessimismus.

Mein Küchenfenster zeigt nicht zum Gürtel, sondern auf die Ottakringer Seite. Schwere Luft steigt von den Dächern auf. Wespen trudeln durch den Abend. Leider spielen die Nachbarn den grässlichen Sommerhit von DJ Ötzi. Mit der Melodie könnte man Eisengerüste schmelzen. Inzwischen kann ich die erste Strophe auswendig. Nasse Orangen am Nil / Ich bin dein Kroko-Krokodil / Der Nil fließt zum Riesenrad / Was wieder bewiesen hat / Dass ich heut alles von dir will. Durch sein Comeback ist DJ Ötzi ins Fahrwasser von Hansi Hinterseer geraten, und dort ertrinkt er jetzt. Ich schließe erschöpft das Fenster, schnappe mir eine Bierdose und schalte die Zeit im Bild ein. Schmutz miaut und legt sich neben mich. Meine Glatze scheint ihm keinen Eindruck zu machen. "Am 11. Juli 2010, kommenden Sonntag, schreiten 5,9 Millionen Österreicher zur Urne." Der Nachrichtensprecher Traxl sieht erledigt aus. "Es ist die dritte Nationalratswahl in vier Jahren. Die Beobachter bezeichnen sie als entscheidende Richtungswahl. In den letzten Wochen hat der Wahlkampf die Partner des Konzentrationsblocks unter Kanzler Bendrosch weit auseinander gebracht. Profitieren davon wird laut den Meinungsforschern der Oppositionsführer Ulf Schneyder von der Freien Front, jener Mann also, dem seine Kritiker einen extrem populistischen Stil vorwerfen. Vor allem von ausländischer Seite sind die Reaktionen heftig." Sogar der blasse Traxl gleicht einem Giftfrosch. Ich drehe Helligkeit und Kontrastwerte runter. Traxl registriert nichts von der Manipulation. Auch abgedämpft ist seine Gesichtsfarbe mitleiderregend. Wahrscheinlich wird ihn seine Frau vor dem Schlafengehen mit Joghurt behandeln.
– Halt endlich ruhig! – Ich hasse dieses Einschmieren. – Sei froh, dass ich keinen Sauerrahm verwende, Specki. Von seiner Frau wird Traxl Specki genannt. Er achtet darauf, dass im Sender keiner diesen Spitznamen erfährt. Als Mitarbeiterin des Bunten Hund erfahre ich solche Geheimnisse. Als nächstes folgt ein Bildbericht von einer Schneyder-Kundgebung. Die FF-übliche Mischung aus Lodenjackenträgern und Querulanten hält Transparente wie Nieder mit der Union – Korruption ham wir schon in die Höhe. "Wir lassen uns von der Union nicht vorschreiben, wen wir wählen!" Die Stimme des Schneyder-Anhängers schnappt über. "Wir sind ein souveräner Staat!" Aus der Menge dringen Gesprächsfetzen wie "Ausverkauf des Landes" oder "nur wegen die Ausländer" zum Mikrofon. Ulf Schneyder strahlt und schreibt Autogramme.
Die Phonymelodie spielt los. Leider hat mein Phony diese teuflische Eurovisionshymne einprogrammiert, die ich nicht abstellen kann. Seit aus Handys Phonys wurden, sind die Zusatzfunktionen ausnahmslos für geniale Schulkinder konstruiert. Solche wie ich verwenden nur den Shopping- und den Pizzaservice von Giacomelli. "Hast du den Traxl gesehen, Fiona?" Ignaz lässt ein blubberndes Lachen los, durch das Phony klingt es wie Wind im Schilf, "der war baden im Gänsehäufel!" "Was hältst du eigentlich von Porree?", lenke ich ab. Wie alle schlimmen Neurotiker ist Ignaz jederzeit bereit, einen unvermittelten Themenwechsel zu akzeptieren. "Porree ... du meinst das Stabhochsprunggemüse?" "Genau, Lauch." "Lauch, Porree ... na du weißt ja, bei mir dreht sich alles um Wurst." Er schnauft in den Hörer, denn wenn es um Wurst geht, schnauft Ignaz immer. "Es muss 1998 gewesen sein." "Was war 1998?" "Mein letztes Lauchessen." "Zusammen mit Tanja?" Nicht dass ich in der Vergangenheit meines allerplatonischsten Freundes herumstöbern will, aber die Phase, während der Ignaz mit meiner Schwester zusammen war, interessiert mich. Keiner der beiden erzählt übermäßig viel davon. "Tanja war das einzige Mädchen in den Neunziger Jahren, das Lauch zubereitete. Wieso Lauch?" "Weil er so vornehm und lang ist." Während dieser Blödelei überlege ich, ob ich ihm den Zettel vorlesen soll. Ich entscheide mich dagegen. "Grundsätzlich halte ich außerordentlich viel von Pflanzen. Gräser sind der Ursprung des Lebens. Aber du weißt ja, Fiona", er gähnt, "mein eigenes Leben wird von Wurst bestimmt." "Vielleicht", sage ich, "sollte ich es auch einmal mit Wurst probieren."

Zu Rucola-Pizza von Giacomelli mit Tabasco und Ketchup blättere ich durch den heutigen Bunten Hund. Die Ausgabe ist leicht blaustichig. Drei meiner Fotos – Böhmischer Prater, Trafikemblem, schwarze Fahne an der Oper – sind gedruckt worden. Jedes Mal verblüfft mich, welche Flut an schäbigen Tierecken und Denksportaufgaben auf den 56 Seiten untergebracht sind. Selbst das Kreuzworträtsel hat etwas Unseriöses. Die Germanistikstudentin, die das Horoskop zusammenstellt, riecht morgens nach Wein und schreibt von alten Jahrgängen der Konkurrenzblätter ab. Ihre astrologischen Vorlieben sind zum Kotzen.

Skorpion liest sich wieder einmal extrem negativ: So kann es nicht weitergehen. Es ist fast unmöglich, Ihnen etwas recht zu machen. Im Grunde sind Sie unsicher und orientierungslos – trotzdem üben Sie an Kollegen harsche Kritik. Jemand, den sie verletzt haben, meint es weiterhin gut mit Ihnen. Der Mars ist im Sextil – reißen Sie sich zusammen. Außer der Bettlampe schalte ich alle Lichter aus und hole mir Olga Forever von Paco Ignacio Taibo dem Zweiten. Ein Geschenk von Tanja. Die mexikanische Heldin Olga Forever zwingt die Machos laut Klappentext mit Mut, Unbestechlichkeit und ihrer Vespa in die Knie. Immerhin habe ich den fahrenden Untersatz mit ihr gemeinsam.

Das Telefonsprudeln klingt scharf und klar. Nicht die Eurovisionshymne des Phonys, sondern der antiquierte Festnetzapparat in der Küche. Kein Bekannter würde am Festnetz anrufen. Nicht einmal Völkerball vom Bunten Hund traut sich das. Mir wird flau, sofort fallen mir einige Horrorfilm-Titel ein. Die Sirene des Todes, denkt mein pessimistisches Ich, Festnetz und Grauen, Teil 2. Im Licht der Bettlampe werfen die Möbel unheimliche Schatten. Ein abscheulicher Gedanke kommt mir. Auf dem Sofa neben dem Apparat könnte ein behaarter Gorillamensch hocken und in aller Gelassenheit auf mich warten. Mit seinen Stimmbändern würde der Gorillamensch das Sprudeltrillern des Telefons perfekt imitieren. Und mich in die Falle locken. Zwischen dem sechsten und dem siebten Läuten habe ich mich zum Sofa vorgekämpft. Zum Glück ist es leer. "Ja?" "Wer spricht?", fragt die Stimme eines Mannes. Den kenne ich von irgendwoher! "Und wer spricht dort?" "Kennst mich nimmer?" Obwohl ich mir wirklich Mühe gebe, die Stimme einzuordnen, gelingt es mir nicht. "Bist du der Kerl, der nichts vergessen hat?" Ich hasse mich für das DU, aber in solchen Gesprächen ist jede Anrede idiotisch. "Keine besonders originelle Aktion." "Wir könnten im Chelsea ein Bier trinken." Ich will abbrechen, da sagt er noch was. "Es geht um Ignaz." Langsam ziehe ich den Hörer zum Ohr zurück. "Eine interessante Geschichte", setzt er nach. "Wer sind Sie?" Schweigen auf der anderen Seite. Das Spiel ist mir zu blöd, ich lege auf. Kann sein, dass der Kerl vor den Gürtellokalen steht und nach oben starrt. Sicherheitshalber werde ich Abstand zum Fenster halten. Die untere Haustür ist verlässlich ab 21 Uhr versperrt. An der alten Argusgraf, der aufmerksamsten Nachbarin der Welt, schwindelt sich so leicht keiner vorbei. Fast wehmütig denke ich an meine Kopfgeburt, den behaarten Gorillamenschen, vor dem ich immer Angst habe und der mir nie etwas angetan hat.

Obwohl der Text von Olga Forever normalerweise wie Butter fließt, habe ich heute Schwierigkeiten bei der Lektüre. Einerseits geht mir der Jauler mit dem Kroko-Krokodil nicht aus dem Kopf. Andererseits ist da eine elektrische Spannung. Ein Kribbeln. Ich glaube, ich lese dieses Buch jedesmal, wenn etwas in meinem Leben passiert. Meine Kopfhaut juckt, obwohl nichts mehr drauf wächst, was jucken könnte. Der Bulldrink, den ich mir auf Zehenspitzen aus dem Kühlschrank hole, heizt mich, anstatt zu erfrischen, weiter auf. Die Nil Filter beschleunigt den Herzschlag. Und das Rattern der U6-Garnituren schmerzt im Gebiss. Eine Wespe fliegt mir fast in den offenen Mund. Auch Schmutz ist aufgewühlt. Seine gelben Augen glotzen in Richtung Küche. "Was ist los, Schmutz?", flüstere ich. Er zuckt zusammen. Meine Unterarme überziehen sich mit eisigen Pünktchen. Das Festnetztelefon sprudelt wieder. Man kann es ebensowenig stoppen wie einen 500-Tonnen-Güterzug auf einer abschüssigen Strecke. Ich hebe ab. "So viele Chancen", es ist die Stimme von vorhin, "kriegt ihr nicht." "Wir?" "Man kommt in den nächsten fünf Minuten ins Chelsea." Die Verbindung reißt. Man kommt? Ich grüble nach, was er mit diesem man kommt ausdrücken möchte. Im Prinzip gehört es nicht zu meinen Angewohnheiten, mich von Männern kommandieren zu lassen. Aber dieser hier macht mich neugierig. Er klingt widerlich, aber vertraut, gar nicht wie aus dem Horrorfilm. Schmutz miaut unheilvoll, während ich die Nil ausdämpfe und in Jeans und T-Shirt schlüpfe. Es ist das Star-Trek-Shirt, auf dem Scotty einem Vampir ähnelt. "Morgen, mein Kleiner." Ich streichle seine Ohren glatt. "Morgen machen wir uns einen gemütlichen Abend." Das Chelsea befindet sich ein Stück gürtelabwärts. Ich habe dort viele Bekannte. Die Musik ist geeignet, den Ohrwurm vom Kroko-Krokodil loszukriegen. Das Chelsea ist ein sicherer Ort.

Ich schaffe bestenfalls einen halben Schritt aus der Wohnung. Beim Zuziehen der Tür legt sich eine Hand über meine Lippen und dämpft den Schrei. Der Mann schiebt mich in das Vorzimmer zurück. Leder und Schweiß: Ich erkenne ihn schon am Geruch. Von innen macht er die Tür zu und nimmt die Hand weg. "Man hat es sich anders überlegt!" Er grinst. "Aaah, Fiona als Glatzkopf. Wo ist Tanja?" "Ich werde schreien", sage ich viel zu leise. "Doch wohl nicht." Charlie trägt jetzt einen Kinnbart. Aber seine Zähne hat er sich noch nicht reparieren lassen. "Verdammt, Charlie. Ich dachte, du bist im Knast!" Er fixiert mich mit dem stieren Blick, den ich vergessen hatte – diese hängenden Mundwinkel, als würde er überlegen, wen er als nächstes zusammenschlagen soll. Schmutz ist ins Vorzimmer hereingeschlichen. Sein Buckel ragt einen halben Meter hoch. Er faucht. Charlie macht einen Schritt zurück. "Verfluchtes Scheißvieh!" "Bist du hier, um meine Katze zu beleidigen?" "Richtig erwachsen geworden, Fiona. Siehst deiner Schwester ähnlich." Ich nehme Schmutz an der Kragenfalte und trage ihn aus dem Gefahrenbereich. "Wirf das Tier am besten aus dem Fenster", Charlies Mundwinkel hängen jetzt bis zum Kinn, "und hol Tanja. Man hat Neuigkeiten." Ich hatte Charlie aus meinem Gedächtnis gestrichen. Seit dem Jahr 2000. Seit 10 Jahren. Seit er unser Leben verlassen hat.

Ganz innen sind vielleicht
alle Männer harmlos.