An der Spitze zumindest Mitteleuropas

Brno ist jung, modern, ganz anders als Prag – typisch mährisch und doch beinahe eine österreichische Theaterstadt

Brno wird langsam zu New York. Aus dem Boden raucht es. Niemand hat so recht eine Erklärung dafür, aber eines steht fest, die zweitgrößte tschechische Stadt (fast 400.000 Einwohner), bekannt für ihr lebendiges Nachtleben und ihre vielen Studenten, steht auf heißem Untergrund. Dass sie von Gängen unterminiert ist, weiß man, an einigen Stellen kann man sie besichtigen. Ursprünglich waren sie als Lagerstätten für Gemüse gebaut und halfen den Bürgern im Kampf gegen die Schweden im Dreißigjährigen Krieg.
Auch unter dem Reduta-Theater findet man Weinkeller und Gänge. Es ist das kleinste der drei Staatstheater und vor allem dafür bekannt, dass der 11-jährige Mozart hier spielte. Was das 21. Jahrhundert betrifft, so hat ein „berühmter Künstler“, ein bildender, bei dem aber auch die Einheimischen dauernd nachfragen, wie er denn nun heißt, den betreffenden Saal psychedelisch knallrot ausgemalt. Wenn der Putz beschädigt wird, seufzen alle, denn der Meister muss laut Vertrag persönlich kommen – er malt sie wieder aus, nicht ohne horrende Preise dafür zu verrechnen und daheim lächelnd einen teuren Rotwein zu öffnen. Könnte man sich jedenfalls vorstellen.
Zwischen den Weltkriegen, in der jungen Tschechoslowakei, wurde in der „Stadt der weißen Moderne“ innovativ gebaut. Als sehenswürdig gelten neben dem Messegelände mit seinem Turm im Bauhausstil (1928) und der Villa Tugendhat, einem frühen Bau von Mies van der Rohe (1939) die funktionalistischen Gebäude des Zentrums. Und die auffällige Festung Špilberk, die als „Völkergefängnis“ im 18. und 19. Jahrhundert düsteren Ruhm als europäischer Alcatraz ihrer Epoche erwarb. So manche Karriere eines politischen Gefangenen, der sich gegen das Haus Habsburg gestellt hatte, endete hier. Während der Weltkriege wurde weitergefoltert, zur Zeit finden dort im Sommer die Shakespeare-Feste statt.

Robert Musil (einst Realschüler in Brünn) bezeichnet im „Mann ohne Eigenschaften“ die Stadt kurz und bündig als „B.“. Für ihn ist sie ein „Ring von Fabrikvierteln“, eng um den Stadtkern. Die Brünner Industrie bestand großteils aus Maschinenbau und Textilfabrikation. Die deutschsprachige Oberschicht von „Österreichs Manchester“ lebte im Zentrum, die Arbeiterklasse war tschechisch. Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich das, es gab keine Habsburgermacht mehr, das „deutsche Brünn“, dem Persönlichkeiten wie Viktor Kaplan, Kurt Gödel und Ernst Mach entstammten, endete aber erst vollständig mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung im Anschluss an die Naziherrschaft im ersten Nachkriegsjahr des Folgekriegs.
Brno oder Brünn? Deutsch ist in Tschechien ein heikles Diskussionsthema. Immer noch stehen die Deutsch-Vermeider und die Deutsch-Benutzer einander recht unversöhnlich gegenüber. In der „sozialistischen“ Epoche wurden die Fremdwörter Sprache der ungeliebten Habsburger, die sich eingeschlichen hatten, eliminiert, wo es ging, „Zlus“ (Schluss) damit! Es war reichlich spät. Die altösterreichische Umgangssprache hatte sich mit dem mährischen Dialekt vermischt, als Arbeiter und Handwerker aus der Hanakei (die sogenannten Hannaken), einer bäuerlichen Landschaft in Mähren, auf Arbeitssuche nach Brno kamen und eine seltsam untschechische und von oben verordnete Leitkultur vorfanden. Deutsch und Jiddisch wirkten auf sie cool.
Der hannakische „Fachmon“ (Fachmann) begab sich ins „Štatl“ (hier mit Einfluss aus dem Jiddischen) zur „Hokna“ (die Hacken, Arbeit), er kaufte „Erteple“ (Erdäpfel) ein, zahlte mit einem „Tauzna“ (Tausender) und abends, nach einer Wirtshausschlägerei, brauchte er vielleicht ein „Flastr“ (Pflaster, das Wort hatte auch die Bedeutung „Strafzettel“) für eine Wunde in seinem „Ksicht“ (Gesicht), nämlich unter dem „Augle“ (Aug), bevor er erschöpft „šlofnót“ (schlafen) ging. Aus der geradezu kreolischen Unterschicht-Sprache entwickelte sich die Umgangssprache Brünns, das klassische „Brněnsky hantec“, das von alten Menschen auch noch heutzutage gesprochen wird und nun, in einer Zeit, in der das Regionale von überallher Unterstützung erhält, starke Förderung erlebt – es gibt wieder Bands, die ihre Texte in Hantec schreiben.

Für uns Österreicher gebietet die Höflichkeit wohl, Brno zu sagen. Brno wird heute, vor allem aus Wiener Sicht, tatsächlich gerne wegen seiner Kultur wahrgenommen – vor allem wegen Oper und Ballett, wo das Tschechische, das den Wienern trotz ihrer tschechischen Namen fremd geblieben ist, nicht so im Vordergrund steht. Günstige Ticketpreise und auffällige, aber nicht allzu gewagte Inszenierungen tragen dazu bei. Zählt man die alternativen Theater dazu, gibt es an die 20 Bühnen.
Das Mahen-Theater, Flagship-Theater, 1880 als Neo-Renaissancebau entstanden, war das erste größere Gebäude der Stadt mit elektrischen Leitungen. Die Techniker holten sich Unterstützung bei der US-Firma von Thomas Alva-Edison, der 1911 auch persönlich vorbeikam, um die 1365 elektrischen Glühbirnen leuchten zu sehen. Hundert Jahres später wurde bei einer Renovierung eine im Grundstein eingelassene Edison-Glühbirne aus der Gründerzeit gefunden. Sie funktionierte noch. Heute hängt sie übrigens links von der Hauptstiege in einer Vitrine.
Schon im 19. Jahrhundert gab es die erste Ausschreibungen für ein neues Theater, erst 1960-65 entstand dann das Janáček-Theater, damals mit 1.800 Sitzplätzen Europas zweitgrößtes. Durch die Modernisierung, und weil Europas Bevölkerung dick und bequem wird, schrumpfte es unterdessen auf 1.100 Sitze. Es ist selten ganz ausverkauft, wodurch österreichische Opernfreaks flexibel hierher kommen können, um sich etwa die Tosca anzusehen. „Nix auf Deitsch an´gschrieben“, jammert ein Wiener beim Eintritt, „wie soll man sich da auskennen?“, während er sich ganz offensichtlich hinlänglich auskennt. Brno ist ein Heimspiel, es reicht, zu wissen, dass Divadlo Theater heißt, nein, nicht einmal das wäre nötig.
Jiri Herman, der neue Direktor für das Teilgebiet Oper, stammt aus der Hauptstadt: „Die Motivation des Ensembles ist hier ganz anders als auf dem Nationaltheater in Prag, wo ich früher war.“ Dem kann Ballettchef Mario Radačovsky nur beipflichten: „Jeder Tänzer gibt hier hundert Prozent. Du spürst die Energie. Wir können eines der beste Theater Europas sein.“ Er lacht, als würde ihn seine Vorstellung selbst erschrecken: „Oder zumindest Mitteleuropas.“

Das Zentrum Brnos strömt seit der umfassenden Sanierung, die das frische Geld der letzten zwei Jahrzehnte mit sich brachte, etwas allzu Perfektes aus. Die Besucher wagen sich selten nach außerhalb in die alten Fabriksviertel spazieren. Zum Beispiel einen knappen halben Kilometer in die Ausfallsstraße Bratislavská, zum Muzeum Romské Kultury, eine einzigartige Institution, die Kultur und Diskriminierung der Roma abbilden soll. Mag das Museum auch geschlossen und kein Hinweis auf die Öffnungszeiten zu finden sein, entwickelt sich der Weg durch die Bratislavská doch zu einem tollen, geradezu exemplarischen Spaziergang. Hier befindet man sich im Herzen der Brünner Romakultur. Vom sanierten Brno ist nichts mehr zu sehen, doch plötzlich lebt die Stadt. Kinder schießen Böller, Säufer tragen ihre Billasackerl umher, und in den Innenhöfen kehren Hausfrauen den Boden der Pawlatschen. Es befällt einen die Furcht, dass viele dieser Häuser bei einer zukünftigen Aufwertung des Bezirks verloren gehen werden. Aber noch sind die Investitionen nicht sichtbar, ja wer weiß, ob das Geld so bald wieder locker sitzt, der Löwenzahn sprießt auf den alten Gstätten.
Draußen raucht es nicht nur aus dem Boden. Sondern ein Einfahrt-Verboten-Schild lässt seinen Dampf ab. Und das gibt es nicht einmal in New York.

 

Anreise
per Bahn von Wien in 1:30 Stunden

Unterkunft und Lokale:
Hotel Amphone, tř. Kpt. Jaroše, 60200 Brno, www.amphone.cz
Café ERA, studentisches Ambiente mit überraschender Küche, sogar Lachs schmeckt hier gut. Zemĕdĕlská 30, www.kavarnaera.cz
Café Savoy, hat das kühle Ambiente der nachkommunistischen Neunziger. Jabuske nám 1. www.savoy-brno.cz
Hostinec U Semináru, traditionelle mährische und böhmische tschechische Küche, u.a. Ochsenschwanzsuppe. Mit einem Pilsner „vom Tank“. Smetanova 30. www.useminaru.cz
Sabaidy, Leo-Thai-Restaurant, endlich die großartige laotische Hausmannsküche in Mitteleuropa, von denen in Wien noch nichts zu sehen ist! Separater Eingang unten im Haus des Amphone Hotel, tř. Kpt. Jaroše, www.sabaidy.cz

Kultur:
Mahen-Theater, Malinovského nám. 1 und Janáček-Theater, Roosveltova 7, www.ndbrno.cz; Muzeum Romské Kultury, Bratislavská 67.

Schokolade:
Chocolate Manufacture Koruna Pralines, Lenka Krňáková, www.pralines.cz, www.dortsacher.cz

Der Autor war eingeladen von der Tschechischen Zentrale für Tourismus,
www.czechtourism.com