Wien – Berlin – Paris – Rom

„Der Standard“, 9. November 2005

Martin Amanshauser überquert Ampeln bei Rot, parkt falsch, fährt schwarz. Er begeht kleinere Verkehrssünden in vier Metropolen und vergleicht anhand dieser Übertretungen deren Lebensqualität.

Kleiner Verkehrsguide für Metropolen

Radfahren ist lebensgefährlich, wenn man es abwechselnd in Berlin und Wien tut. Das habe ich im Sommer 2005 gelernt. Berlin wird langsam, aber extrem indolent befahren. Man taumelt relaxed die Radwege entlang und ignoriert rote Ampeln. Auch kompliziertere Kreuzungen werden ohne Rücksicht auf die Ampelfarbe im Schritttempo überquert. Die Autofahrer spielen mit: Der Berliner Aggressionspegel ist niedrig, der Liberalitätsgrad hoch. Hetzer stoßen allerdings auf Unverständnis. „Du bist wohl nicht arbeitslos!“, war die ärgste Beschimpfung, die jemand mir nachschrie.

Auf Wiens Radwegen hetzt und pusht man, trägt Operettenkleidung und Helmi-Helme, stoppt jedoch selbst bei Verkehrsstille mit verbissenem Gesichtsausdruck an Ampeln – könnte ja Polizei um die Kurve biegen. Auch muss man immer gewärtig sein, dass die selbst ernannten Blockwarte, die Wiens Straßen bevölkern, lautstark kleinere Verkehrsvergehen kommentieren. Nach einigen Berlinwochen wurde mir am Karlsplatz ein rasantes Manöver bei rotem Ampellicht, also ein spontaner Stilmix an Übertretungen, fast zum Verhängnis, weil mich ein Busfahrer nicht miteinberechnete. Ich schliff an seiner Seitenverkleidung, bremste, stand mit zitternden Knien da – dankbar, überlebt zu haben –, nickte eifrig bestätigend im Rhythmus seines „Orschloch“-Gebülls, und beschloss, mich zukünftig näher mit den Theorien lokaler Verkehrscodes zu befassen.

Wien und Berlin sind Radlerstädte, auch das wurde mir im Sommer 2005 bewusst, nachdem ich die vorherigen Sommer in Rom und Paris verbracht hatte, wo ein Fahrrad erhöhtes Sicherheitsrisiko bedeutet. Dabei würde sich Berlin, von der Anlage her, am besten zur Autostadt eignen. Die breiten Boulevards ermöglichen Schrägschichtung beim Parken, und Parkplätze sind leicht zu finden. Da momentan nicht gar so viele Leute nicht arbeitslos sind, besitzen die meisten keinen Wagen, wodurch den Privilegierten noch größeres Parkglück zu Teil wird. Zudem funktioniert die Falschparkkontrolle nur punktuell, so dass man etwa in Prenzlauer Berg reibungslos 24 Stunden Falschparken ohne Strafzettel durchstehen kann.

In Paris wäre das unmöglich. Dort herrscht Parkplatzknappheit auch auf den „parkings payants“, und wer nicht bezahlt, der erhält sein Zettelchen beinahe mit Wiener Rekordgeschwindigkeit. Mit A-Kennzeichen kann man allerdings die Strafscheine als Sammlerstücke ins Album kleben – in der globalisierten Welt gibt es erleichternder Weise noch immer unverlinkte Tools.

Doch Vorsicht beim Ausparken! Die Pariser, die sich sonst überraschend resistent gegen herrschende Vorurteile erweisen (sie sind freundlich, hilfsbereit und kontrollieren keineswegs die grammatikalischen Grundkenntnisse des österreichischen Schulfranzösisch), können nämlich nicht Auto fahren. Fußgänger auf Zebrastreifen behandeln sie als Wesen von küchenschabenähnlichem Stellenwert, und am Asphalt gilt das Faustrecht, als wollte man den zivilisatorischen Overkill anderer Lebensbereiche ausgleichen. Dazu kommt die typisch französische, nervig-ruckelnde Fahrweise. Wie großartig brettern dagegen die Römer über die Via dei Fori Imperiali zum Kolosseum! Dort ist fußgängerische Lebensgefahr noch Ehrensache und der Straßenüberquerungstod ein ritterlicher Akt.

Besser, man begibt sich zur Steigerung der Lebensqualität in öffentliche Verkehrsmittel. Sie sind die traditionelle Messlatte des Stadtgefühls: Paris Note 1 (unglaubliche Stationsdichte und Verlässlichkeit, zudem Fahrverbot für Großhunde), Wien Note 2 (gutes Netz, doch woanders wäre es unvorstellbar, eine Linie wochenlang zu sperren), Berlin Note 3 (hoher Einzelticketpreis, aber immerhin Freitag- und Samstagnacht durchgehender Betrieb), Rom Note 4 (Unregelmäßigkeiten, löchriges Netz, extreme Taschendiebgefahr in Linie 64 zwischen Termini und Petersdom). Nicht immer hat man ein Ticket zur Verfügung, sei es aus studentischem Geiz oder Ehrgeiz, aus Mangel an Wechselgeld, aus Grundsatzerwägungen oder einfach, weil es sich längerfristig rechnet.

Der Wiener Schwarzkappler ist nicht nur deshalb leicht identifizierbar, weil er in der Zweiergruppe auftritt, die an der Einstiegstelle schauspielerisch völlig unglaubwürdig Nicht-Zusammengehörigkeit darstellt. Bartmode der Siebziger Jahre, Lederjacke der Achtziger Jahre und Krankenkassenbrillen bilden hier die unweigerlich entlarvende Corporate Identity. Gerne sieht ein Wiener Schwarzkappler auch so aus, als wäre er beim Vorstellungsgespräch einer privaten Sicherheitsfirma durchgefallen. Blicken Wiener Schwarzfahrende aufmerksam durch die Scheibe, können sie immer bequem aussteigen. In Paris ist das anders – man fährt nicht schwarz, außer vielleicht, man ist gerade selbst beim Vorstellungsgespräch bei der privaten Sicherheitsfirma durchgefallen.

In Rom wird hingegen kaum kontrolliert – trotzdem ist Fahrscheinbesitz anzuraten, denn die netten römischen Kontrolleure überzeugen einen wortgewaltig davon, dass die Bezahlung der Strafe ein Dienst an der Allgemeinheit ist, dem man sich aus Solidarität nicht entziehen darf. In Berlin ist es wieder anders, dort hat eine private Firma das Kontrollsystem übernommen. Seitdem herrscht wilde Kontrollsucht: Menschen wie du und ich – vor allem solche, die nicht mehr arbeitslos sein wollen, vielleicht auch solche, die das Schwarzfahren satt haben – erheben sich plötzlich mit schüchternem Lächeln und verlangen Fahrscheine. Die Schwächeren unter ihnen werden vom Volk übrigens ignoriert.

Das Gesamtbewegungsgefühl ist in Berlin gemächlich, in Rom chaotisch, in Wien kosmopolitisch, und in Paris sind die Distanzen so enorm, dass eigentlich jeder ein Pendler ist. Kürzlich stand ich an einem kalten Abend in Reykjavík, eine langgezogene Stadt in Innsbruckgröße, mit Buslinien, deren undurchschaubar langen Intervallen bereits reihenweise Einheimische erfrieren ließen. Der Schneeregen setzte ein, eigentlich blieb nur die Taxioption. Mein Begleiter beruhigte mich prophylaktisch. Das Taxi sei zwar einerseits enorm teuer, aber das mache nichts, denn andererseits sei ja in Island alles enorm teuer.