USA


Artikel aus „Die Presse“, 1997.

Meatloaf und Tuna Melt

Über die amerikanische Institution Diner oder Warum die Österreicher besser bei der Buttersemmel bleiben.

Es ist diese wunderbare und widerliche Gemütlichkeit, die aufkommt, wenn es draußen regnet. Vielleicht liest man gerade ein Buch. "Draußen begann es zu regnen": der ewige Satz, der am Ende des Buches steht, immer, wenn uns die Romanciers allein lassen mit dem aufgewühlten Innenleben unserer Bäuche. Wohin begibt sich der österreichische Mensch in solchen Fällen? Wenn er einsam seinen Gedanken nachhängen will und trotzdem in Gesellschaft sein möchte?

Wer Getränke braucht, geht ins Kaffeehaus. Wer Hunger hat, geht zum Würstelstand. Beides gleichzeitig funktioniert nicht so recht. Im Kaffeehaus hat plötzlich jeder keinen Appetit mehr. Denken Sie nur an Ei im Glas. Der Würstelstand - dort gäbe es zumindest Fleisch - ist draußen im Freien. Und draußen beginnt es ja zu regnen.

In den USA existiert eine Institution, die Kaffeehaus und Würstelstand unter einen Hut bringt - das Diner. Vor zehn Jahren brachte es Suzanne Vega in Form eines Kinderlieds ins europäische Bewußtsein: "I am sitting / In the morning / At the diner / On the corner / I am waiting / At the counter / For the man / To pour the coffee". Der Song ist die amerikanische Spielart des Hinausschauens in den Regen. Er handelt von einer Frau, die im Diner lustlos Zeitung blättert - die Horoskope sind noch das interessanteste - und neben ihr küssen sich Pärchen und draußen schütteln Menschen ihre Schirme und Haare aus und sie liest von einem Schauspieler, der sich tot gesoffen hat. Irgendwann hat sie ausgetrunken, es ist Zeit, den Zug zu nehmen.

Im amerikanischen Diner gibt es Bagels und Muffins zum Kaffee, der immer besser schmeckt als sein Ruf. Sogar das Bier, Budweiser oder Samuel Adams, trinkt sich hervorragend. Man isst Meatloaf (den rauen Bruder des Hamburgers) oder ein Sandwich mit Tuna Melt. "On Rye" oder "on gravy" bestellt man Corned Beef oder Hot Pastrami. Nach bestimmten Produkten braucht man nicht zu fragen: die Flasche Ketchup steht am Resopaltisch, ein Glas Leitungswasser kommt automatisch. Weiter vorne stehen die zerschlissenen Barhocker wie eine Reihe Soldaten: das Diner ist das Rückzugsgebiet einer Art von Gemütlichkeit, die ohne Polstermöbel auskommt.

Viele Lokalitäten werden von Latinos betrieben, andere von Griechen, Italienern oder Juden, dementsprechend stehen Burritos, Souvlaki, Lasagne oder Gefilte Fish auf der Speisekarte. Die Qualität des Essens ist jedoch von untergeordneter Bedeutung. Niemand geht ins Diner, um einen kulinarischen Höhepunkt zu zelebrieren. Die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Hilts schätzt das Diner als "Ort, wo kein Telefon läutet, wo du keine Versuchung hast, irgendwas zu machen, kein Aufräumen, keine Wäsche, kein Kochen, nichts!". Sie ist überzeugt, dass jeder Bürger an der Ostküste sein Lieblingsdiner hat. Diese Liebe geht oft über die Lebensdauer des Lokals hinaus. Ein junger Mann gestand ihr einmal: "Remember Ed's Diner in Norwalk? My dad cried when that place closed." Zentral sei das Gefühl der Geborgenheit. Man gehe nicht wegen den Feta-Cheese-Omletten hin; eher schon, weil man seit seiner Kindheit den Geruch des alten Öls mag, in dem sie gebraten werden.

Das amerikanische Diner blickt auf gute alte proletarische Tradition zurück: es entstand am Rand der Highways und in Industriegebieten, dort, wo die Kundschaft den Besitzer kennt und umgekehrt. Streng riechende LKW-Fahrer sonderten strenge Rauchwolken ab, Fabrikarbeiter spielten Karten. Man bekam anständiges Essen zu niedrigen Preisen. Es war geselliger als in der Stube daheim und relaxter als im Restaurant. Wo ohnehin keine Tischtücher lagen, regte sich auch niemand auf, wenn wer den Drink umschüttete.

Die Vorzüge des Diners wurden bald zu Nachteilen: irgendwann in den siebziger Jahren, als Burger King und McDonald's ihren Siegeszug antraten, verzichteten immer mehr Leute auf einen Besuch. Die großen Ketten boten das fasteste Fast-Food an, in Form von Drive-Ins. Man musste seinen Arsch zur Nahrungsaufnahme nicht mehr aus dem Auto quälen. Dazu kam ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis am Höhepunkt des Kalten Kriegs. Die Qualität des Cheeseburgers von McDonald's liegt darin, daß er bar jeder Überraschung ist. Von Washington bis San Diego schmeckt er gleich harmlos. Die Leute vertrauen ihm, besser: sie haben sich an seine Verweckende Gleichförmigkeit gewöhnt. Diners mit ihren unwägbaren Partikularitäten gerieten hingegen in den Ruf von verrauchten Läden, vollgestopft mit dreckigen LKW-Fahrern, die ebensolche Witze erzählten. Da wollte keiner mehr hin. Sofern sie in Industriezonen lagen, stellten sie ohnehin gemeinsam mit den Fabriken der Umgegend ihre Tätigkeit ein.

Die urbanen Diners unterscheiden sich grundsätzlich von jenen in den Vorstädten: New York ist das beste Beispiel dafür. Die Verschlafenheit der weißen Mittel- und Oberschichtgegenden nördlich der Bronx hat eine Reihe von großartigen Lokalitäten hervorgebracht, wo von den Kids der Umgegend über Blue Collars, Ärzte und Intellektuelle, bis zu Prostituierten und Heroinsüchtigen alle Arten von Typen vertreten sind. Falls Sie es überprüfen wollen, Vorsicht: die wirklich unheimlichen Exemplare sitzen immer genau hinter Ihrem Rücken und geben bedrohliche Geräusche von sich. Jedes Diner hat Kunden, die es vorziehen, wenn Sie nicht in ihrem Diner aufkreuzen.

Wie anders können die Bruderlokale in Manhattan sein - viel Hektik, rasche Bedienung, das meiste Geschäft am Take-away-Sektor. Und ein schöner Blick in die Luft nach außen, wie bei Jones Diner an der Lafayette Street, meinem Lieblingslokal. Seit einiger Zeit öffnen auch Diners, die gar keine Diners sind, sondern Zitate davon; das Empire Diner etwa, ein schicker Ort, der so tut, als sei er vom Geist des "Comfort Food" durchströmt. In Wahrheit fehlt ihm (und seinem Publikum) aber die Patina, das Verliererimage, die beiläufige Provinzialität, die ein gutes Diner und seine Kundschaft ausmacht.

Denn inzwischen setzt eine Renaissance ein: viele Diners werden revitalisiert. Manche zerlegt man und verschifft sie nach Europa - England, Spanien und Deutschland holen sich die guten Stücke, eines soll sogar nach Russland geschickt worden sein. Das Interesse der restlichen Welt hat nicht nur damit zu tun, dass Leute wie Quentin Tarantino keine Diner-Berührungsängste zeigen: amerikanische Eßsskultur gilt seit Ende der achtziger Jahre in der urbanen Welt als hip - kein Punk würde davor zurückschrecken, sich zum McCountry oder zum TS zu bekennen. Besonders in Europa liebt man Junk-Food; je kurioser, desto besser. Was könnte man Geld machen mit einem Meatloaf am Würstelstand in Ottakring! Natürlich müßte man die Werbung etwas verändern: "Deliciously decadent - truly European" würde jenseits des Gürtels nicht ziehen.

Alles Träume. Österreich wird bei der Buttersemmel bleiben. Und das ist auch gut so. Jede Renaissance, also auch jene der Diners, produziert snobistische Auswüchse. Elizabeth Hilts schreibt: "Ein gutes Diner gründet seinen Erfolg in der Anzahl der Kunden, die sie namentlich kennen. Diese neuen Betriebe in Manhattan kennen aber nur zwei Namen: Visa und Master Card." Vielleicht ist die Buttersemmel gar nicht so schlecht; ein bisschen Salz drauf, eine Melange dazu, die ein unaufmerksamer Ober bringt. Diese wunderbare und widerwärtige Gemütlichkeit. Sobald man aus dem Fenster schaut, beginnt es draußen zu regnen, aber kein Gefühl stellt sich ein. Nichts wühlt einen auf. Wahrscheinlich regnet es draußen schon zu lange.