Timor Leste

Süddeutsche Zeitung 2008

Christusfiguren am Ende der Welt

 

Timor-Leste, ein perfektes Urlaubsland? Die Natur legt augenscheinlich den Vergleich mit Bali nahe: eine Insel mit makellosen Stränden, frischen Wäldern und trekkingtauglichen Bergen, wo sich australische Aussteiger und polnische Rucksacktouristen in Boutiquehotels unter Frangipanibäumen in den Pool plumpsen lassen – plumpsen lassen könnten, würden solche Pools existieren. Vielleicht in hundertfünfzig Jahren. Vorläufig gibt es in Timor-Leste kaum Tourismus. Denn die Wirtschaft legt nicht den Vergleich mit Bali, sondern den mit Burundi nahe.

Mit 1 Million Einwohnern auf 14.600 Quadratkilometern ist Timor-Leste das ärmste Land Asiens. Die Fahrt vom Internationalen Flughafen ins Stadtzentrum von Dili wirkt wie eine Diashow für halb abgerissene, ausgebrannte Häuser. Eine protzige Aufschrift auf einem Bauzaun weist darauf hin, dass die People´s Republic auf China ein Gebäude errichtet. Das Baugerippe lässt an ein Gefängnis denken. Danach ein lang gezogener Markt mit spärlichem Warenangebot. Fast jeder Stand bietet Knoblauch an, als wäre Knoblauch der Schlüssel zur Zukunft, zum Wohlstand.

Das Taxi ins Zentrum kostet 5 US-Dollar. Bei der Staatsgründung im Jahr 2002 hat Timor-Leste beschlossen, sich keine eigene Währung zu leisten. Man war schlicht zu arm dafür. Der Dollar mag aus heutiger Sicht eine Fehlentscheidung gewesen sein. Doch Timor-Leste hatte keine Erfahrungswerte. Einige Portugiesen jammerten – wenn schon nicht den Euro, so hätte man durchaus den alten Escudo nehmen sollen! Das sind postkoloniale Allmachtsphantasien. Timor-Leste, das sich die Insel mit dem indonesische Westtimor teilt, ist nicht gerade stolz auf vierhundert Jahre portugiesischer Kolonialzeit.

Nicht erst seit Portugal seine chronisch vernachlässigte Aschenputtel-Kolonie 1975 überstürzt in eine 9-tägige Unabhängigkeit entließ, wird die Rolle der schlampigen Kolonialmacht skeptisch betrachtet. Das jederzeit zum Imperialismus bereite Indonesien stieß mit US-Billigung in das Machtvakuum vor und machte Timor-Leste unter dem Namen „Timor Timur“ zu seiner 27. Provinz. Was folgte, waren vierundzwanzig Jahre neuerliche Kolonialherrschaft. Die Besatzungspolitik forderte 200.000 Opfer. Praktisch jeder Timorense beklagt in seiner Familie Todesfälle. Erst 1999 brachte ein Referendum die Unabhängigkeit – samt unkontrolliertem „Rückzug“ indonesischer Milizen, der in der Zerstörung der gesamten Infrastruktur gipfelte. Der neue Staat fing buchstäblich bei Null an.

 

Carlos, braun gebrannt, 58, hat direkt neben seinem Elternhaus in Dili ein portugiesisches Lokal eröffnet, Tagesgericht ist Feijoada oder Frango com Molho de Tomate. An der Bastwand hängt ein Portugal-Schal. „Für portugiesische Küche gibt es einen Markt. Die Embaixada de Portugal ist da vorne.“

Am 20. September 1975 wurde sein Vater ermordet – auf dem Hauptplatz. Carlos blieb nur die Flucht. Zuerst nach Portugal, in den Algarve, und als es dort keine Arbeit gab, nach Australien, wo er LKW-Fahrer wurde. Seit dem Jahr 2000 ist er wieder in Timor-Leste. „2006 flüchtete ich wieder, wegen den Unruhen. Alle paar Jahre brennen die mein Haus nieder und ich muss es aufbauen.“ Carlos schüttelt den Kopf: „Verrückt sind sie schon. Was könnte man alles aus dieser Insel machten! Wenn da jemand investiert ...“

Dilis Vorstädte, das bedeutet noch immer Zeltsiedlungen, so weit das Auge reicht, Erinnerung an die Krise von 2006, als ein Drittel der Armeeangehörigen desertierte und der Konflikt zwischen Militär und Polizei anarchistische Zustände ungeahnten Ausmaßes hervorrief. Hunderttausend Flüchtlinge ließen sich damals in der Hauptstadt nieder. Die Regierung Alkatiri trat zurück; erst das Kabinett des Ex-Widerstandskämpfers Xanana Gusmão schaffte es, das Land zumindest halbwegs in die Normalität zurückzuführen.

Das Hotel Dili, eine scheinbar zwanglose Ansammlung von Containern, in denen sich klimatisierte Suiten mit Breitband-Internetzugang befinden, liegt direkt an der Waterfront – auch für Mittelklasse-Hotels gibt es einen Markt. Denn nicht alle Verwandte von UN-Mitarbeiter steigen im mondänen ersten Haus der Stadt ab, dem „Hotel Timor“. Junge Männer bieten den vorbeifahrenden Autos Fische an der Holzstange an, und Kokosnüsse. Das Meer gegenüber ist nicht dreckig, doch Baden geht hier keiner – dafür gibt es, einige Kilometer außerhalb der Stadt, die „praia da areia branca“, den perfekten weiß-gelben Strand. Noch ein Stück weiter steht der Cristo Rei, eine der überdimensionierten Christusfiguren, wie in Rio de Janeiro und Lissabon. Die einsame und etwas bedrohliche Kulturleistung wartet mit ausgebreiteten Armen auf bessere Zeiten. Fast niemand besucht das Denkmal, höchstens joggende UN-Polizisten in kühler Morgenstunde.

 

Wer Dili verlässt, kann durchaus im Verkehr stecken bleiben. Nicht, weil es so viel Verkehr gibt, sondern wegen den Geschwindigkeitslimits: in der Stadt 45 km/h. Taxis dürfen überhaupt nur 20 km/h fahren. Und sie halten sich auch daran. Man ist in Timor-Leste daran gewöhnt, sich sicherheitshalber an Regelungen zu halten.

Die Landstraße nach Baucau führt teilweise durch die Berge, teilweise an der Küste entlang: Vulkanstrände, dazwischen Buchten mit Muschelsand. Auch wenn man es immer wieder hinter der nächsten Kurve erwartet, an keinem einzigen Ort stößt man auf das All-inclusive-Resort. Bei Manatuto lassen lokale Reisebüros ihre Scuba-Taucher zu Wasser. Doch insgesamt ist die Tourismusindustrie kaum weiter entwickelt als die klassische: es gibt in Timor-Leste keine einzige Fabrik. Am Straßenrand stehen Hausruinen, im September 1999 niedergebrannt, daneben Hütten mit steilen Dächern, und Felder: Reis, Bananen, Kaffee.

Baucau, malerisch am Abhang gelegen, hieß einst nach dem portugiesischen Diktator „Vila Salazar“, 15.000 Einwohner, heute die zweitgrößte Stadt des Landes. Das Prunkstück ist die beeindruckende Markthalle, ein unrenoviertes Monument, das in Lissabon stehen könnte. Hier, einige Kilometer im Landesinneren, erinnern kühlere Brisen an den südlich gelegenen Gipfel Matebian, mit 2315 Metern einst Rückzugsgebiet für Widerstandskämpfer. 1978 wurde er als Berg des Todes bekannt, als die indonesische Armee ihre „Umzingelungs- und Auslöschungsoffensive“ startete. Zur Verblüffung vieler Trekker begegnet man nach 3-stündigem Aufstieg auf dem Gipfel, der Blicke auf Nord- und Südküste bietet, einem weiteren Cristo Rei mit ausgebreiteten Armen. Irgendwo, das steht spätestens an diesem Ort fest, müssen die Portugiesen eine Christusfabrik betrieben haben. Aber garantiert aber nicht in Timor-Leste, dem Paradies der Nicht-Produktion.

Weiter im Osten liegt der Strand Tutuala, dessen Sand nun tatsächlich weiß ist, ein Ort, nur mit Allradfahrzeug zu erreichen. Gegenüber glitzert die Insel Jaco, umgeben von einem Schnorchelriff, das für seine Anemonenfische bekannt ist, die sich in den Seeanemonen verstecken. Sie sind schlechte Schwimmer und warten dort ab. Wer Lust verspürt, nach Jaco hinüberzuschwimmen, sollte sich mit den Gezeiten und Strömungen vertraut machen. Es gibt nicht nur keine Fabriken hier – die nächsten Krankenhäuser sind auch recht fern.

 

Vize-Premierminister José Luís Guterres sitzt in seinem Büro im Regierungspalast, dem größten Gebäude von Dili: „Dort draußen standen massenhaft Zelte, noch letztes Jahr. Aber es ist uns zum Glück gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, in ihre Dörfer zurückzukehren.“ Die Attentate auf Xanana Gusmão und Präsident und Friedensnobelpreisträger José Ramos-Horta im Februar 2008 haben nicht gerade zur Stabilisierung beigetragen. Immerhin wurde Rebellenführer und Staatsfeind Nummer 1, Alfredo Reinado, beim Putschversuch getötet, das findet hier keiner schade. Ramos-Horta erholte sich in Australien wochenlang von seinen Schussverletzungen, jetzt ist er wieder da.

„Wir müssen mit den simplen Dingen beginnen“, erklärt Guterres, aber er seufzt kein einziges Mal. „Der Mehrheit der Bevölkerung fehlt der Anschluss an das Elektrizitätssystem. Das hat Priorität. Und wir führen ein Pensionssystem ein. Andere asiatische Staaten haben ja gar keine Altersversorgung. Auch wenn wir keine hohen Beträge auszahlen können, zwanzig Dollar pro Pensionist pro Monat.“ Das ist etwas – in einem Land, in dem Bauarbeiter zwei Dollar pro Tag verdienen. Guterres, ein weltgewandter Politiker, auf dessen Schreibtisch ihn ein Foto mit US-Präsidenten Bush zeigt, ein anderes mit Kofi Annan, war während der indonesischen Besatzungszeit im Exil – und nach der Unabhängigkeit Botschafter in den USA.

2006 wurde Guterres ins Kabinett Gusmão berufen. Die Frage nach seinem Lieblingsrestaurant in Dili überrascht ihn. „Hab ich keines! Aber ich werde die Lokale schon noch testen!“ Sein gebildetes Lissaboner Portugiesisch nimmt unwillkürlich englische Hilfswörter auf, wenn es um das Genussvokabular geht: „Ehrlich, um diese Art von pleasure zu haben, braucht man auch die geeignete company, verstehen Sie? Um gutes Essen zu ´enjoy´. Wochenenden, Freizeit, gibt es für mich momentan nicht. Wir sind ununterbrochen am Arbeiten. Zu normalen Vergnügungen kommt man da nicht. Aber eines Tages möchte ich mit meiner Familie hier das Leben genießen, das ist mein größter Wunsch!“

 

Oecussi-Ambeno, das ist Timor-Lestes Exklave, umgeben von Westtimor und dem Meer. Fruchtbarer schwarzer Vulkanboden, bizarre Bergrücken, in den Ebenen Reisfelder. Man erreicht Oecussi nach zwölf Stunden Fahrt mit der „Nakroma“, dem einzigen staatlichen Schiff. Lifau war der Ort, an dem erstmals Portugiesen an Land gingen. An dieser Stelle herrschte das Ambeno-Königreich. Seit 1556 waren Dominikaner auf der Insel, im Jahr 1641 gelang es ihnen, die einheimische königliche Familie zu taufen: sozusagen eine missionarische Erfolgsgeschichte.

Oecussi-Ambeno war nur einmal in den Schlagzeilen, in den Siebziger Jahren, als der neuseeländische Anarchist Bruce Glenville ein fiktives Sultanat gleichen Namens ausrief. Selbst war der Mann aber nie dort. Glenvilles Oecussi, ein Idealgebilde mit liberaler Drogenpolitik und staatlicher Zeppelinfluglinie lieferte immerhin eine Erfolgsgeschichte der Briefmarkenproduktion: Sammler aus aller Welt wollten Marken dieses Staats, den es nie gegeben hatte.

Das reale Oecussi-Ambeno ist womöglich noch weniger als ein Entwicklungsgebiet. In der Hauptstadt Pante Macassar gibt es kein TV, kein zweistöckiges Haus, kein Internet, keine Bank, und nur ein einziges Hotel-Restaurant, das Lily. Amaro Cofan, einer der wenigen Taxifahrer von Oecussi, hat kein Auto, sondern ein Motorrad. Mit dem fährt er Gäste gerne durch die eindrucksvollen trockenen Flussbetten, die im November durch Regengüsse überflutet werden, bis nach Oesilo, dem Grenzörtchen zu Westtimor. Oder die Küste entlang, jeweils bis zum Ende des Gebiets von Außen-Timor-Leste: Stacheldraht, Indonesien.

Die meisten Bewohner der Exklave haben noch nie eine höhere Banknote als zehn Dollar gesehen, viele kennen gar kein Geld. Amaro Cofan schon. Er hat Schulbildung genossen. Er lebt in einem Haus, auch wenn das fast keine Einrichtungsgegenstände hat: es gibt in Oecussi kein Zeug, keine überflüssigen Gegenstände. Amaro schreibt seinen Namen auf ein Stück Papier, seinen Beruf, „triver motorcycle“, sein Alter, 28, den Namen seiner Frau, Cicilia, die seiner vier Kinder: Victoria, Montanha, und die Zwillinge Gracia und Gracela. Das ist sein Leben. es ist wie überall: Wenn er heimkommt, klammern sie sich an seine Hosen und rufen „Papa!“ Amaro Cofan kann an einem Tag zehn bis zwanzig Dollar verdienen, wenn er Glück hat. Er ist einer der Leute, die Geld haben.

 

 

Flug: Die indonesische Airline Merpati fliegt täglich von Bali nach Dili. Außerdem gibt es Flugverbindungen von Darwin und Singapur.

 

Unterkunft: Hotel Dili, Avenida dos Direitos Humanos, Dili, Zimmer von 60 bis 90 (Suite) Dollar; Hotel Timor, bestes Haus in der Stadt, diplomatischer Treffpunkt, 130 Dollar. Billigere Unterkünfte im Zentrum.

 

Restaurants: ideale Gegend an der östlichen Waterfront, außerhalb von Dili, Rua da Areia Branca: Fischrestaurant Victoria Metiant; mehrere Lokale mit portugiesischer und indonesischer Küche.

 

Visum: an der Grenze für 10 US-Dollar. Vorsicht, ebenso hohe Ausreisetaxe. Funktionierende Geldautomaten im Zentrum von Dili, sonst nirgends im Land, Währung: US-Dollar.

 

Nach Oecussi-Ambeno: Landweg nur mit indonesischem Visa (keine Ausstellung an der Grenze), komplizierter Routenverlauf; Fähre „Nakroma“, jeden Montag und Donnerstag ab 17 Uhr, ca. 12 Stunden Reise; Rückfahrt Dienstag und Freitag; Samstag fährt die „Nakroma“ auf die kleine Insel Atauro – Möglichkeit zur Delphinsichtung.