Seychellen
„Der Standard“, 26. Mai 2006
Angefangen hat alles mit einer Coco de Mer. Vor vielen Jahrhunderten wurde sie auf den Malediven an Land geschwemmt. Eine riesige, eigensinnige Kokosnuss, eine, wie man sie noch nie gesehen hatte dreißig Kilo schwer. Das Problem: es gab auf der ganzen erforschten Erde keinen dazupassenden Baum. Trotzdem strandeten diese seltsamen Nüsse regelmäßig an den Küsten des Indischen Ozeans. Lange hielt sich das Gerücht, die Coco de Mer stamme von einer riesigen Unterwasser-Kokospalme, die ihre reifen Früchte dem Spiel der Wellen überließ.
Das Archipel der Seychellen 115 Inseln im westlichen indischen Ozean, nördlich von Madagaskar war damals noch unbekannt. Im frühen 16. Jahrhundert wurde es von den Portugiesen entdeckt, aber erst 150 Jahre später, von Franzosen, besiedelt. Zu jener Zeit klärte sich auch dieses letzte große Kokosnussrätsel: die Coco de Mer kam eben nicht aus dem Meer, sondern von den Seychellen. Ihre Palme ist lediglich auf zwei Inseln endemisch, auf Praslin und Curieuse, und sonst nirgends auf der Welt.
Selbst Menschen, denen der billige, obszöne Witz eigentlich fremd ist, können sich den suggestiven Formensprache dieses Gewächses nicht entziehen, die Assoziationen sind einfach zu naheliegend: vom Stamm der männlichen Coco de Mer (maximale Höhe bis zu 40 Meter) hängen penisartige Blüten nach unten, biegsam wie Schlangen sind sie und bis zu einem halben Meter lang. Die Früchte der weiblichen Palme (an die 30 Meter) hängen hingegen fest und prall im elastischen Geäst. Die Samen sehen aus wie Doppelnüsse in Hodenform. Einheimische Legenden spielen mit dem Thema, es heißt, dass die Paarung der Coco de Mer in stürmischen Nächten erfolgt, und dass jene Menschen, die Zeuge des pflanzlichen Geschlechtsakts wurden, später nicht mehr davon berichten konnten.
Die Wissenschaft hat für die Befruchtung einleuchtendere, wenn auch weniger gruselig-romantische Erklärungsmodelle. Fest steht, dass einige Coco de Mer-Palmen 400 Jahre alt sind und einst den Primärdschungel von Praslin gebildet haben. Praslin, mit einem 15-Minuten-Flug von der Hauptinsel Mahé zu erreichen, hat 5000 Bewohner, größtenteils im Tourismus beschäftigt. Im Herzen der Insel liegt das berühmte Vallée de Mai, eines der kleinsten UNESCO-Weltnaturerbegebiete der Welt. Hier blüht ein unberührter Palmenwald aus hunderten Coco de Mer. Durch das frische, kühle Unterholz fließen Bäche, vorbei an grünen Geckos, weißen Nacktschnecken und schwarzen Papageien und fantastischen Spinnennetzen. Einige sehen aus wie Hologramme von CD-Roms, andere erinnern an Projektionen schimmernder Wasserfäden.
Praslin, das bedeutet Luxustourismus mit streng restriktierter Besucherzahl, wer sich einen Aufenthalt leisten kann, ist selbstverständlich willkommen und besucht garantiert die Nachbarinsel La Digue mit ihrem Ruf als allerschönster Fleck der Seychellen. Hier wächst die Vegetation fast bis ins türkise Meer, das von Granitfelsen gebrochen wird. Der Granit erinnert an den nicht-vulkanischen Ursprung der Seychellen, die einst vom Urkontinent abgebrochen sind.
Vom Fährenpier aus verlaufen Straßen in beiden Richtungen, die man mit Mietfahrrädern erforschen kann aufgrund der geographischen Verhältnisse schließt sich der Straßenkreis jedoch nicht, verläuft sich und gibt Pfade frei, die sich auch wieder verlaufen, ins unerschlossene Innere der Insel. La Digue hat 2000 Einwohner und den größten Supermarkt des Archipels, auf den sie die Bewohner anderer Inseln mit Neid blicken. Es gibt vier Taxis, eine Handvoll Privatautos und wenige Häuser. Manchmal kommen Riesenschildkröten an den Strand, um ihre Eier abzulegen. Sie lassen sich von Menschen bei dieser Tätigkeit nicht stören.
„Das Eierlegen ist unglaublich berührend, ich habe es viele Male gesehen“, erzählt Constanze Kehden, deutsche Assistant Managerin im Lemúria Resort auf Praslin, dem besten Hotel der Region. In der schwüle Hitze drücken die Schildkrötenweibchen ihr Leid geräuschvoll aus. „Da möchte man am liebsten helfen: Komm, ich grab dir das Loch, konzentrier sich du auf deine Eier.“ Natürlich halten sich die Menschen fern, und Hotels wie das Lemúria verfügen über einen eigenen „Turtle Manager“, der die Gäste im nötigen Abstand zu den Schildkröten hält. „Beschwerden gab es noch keine“, sagt Constanze, „aber einmal hatten wir ein Schildkrötenpaar, das sich jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit am Strand geräuschvoll geliebt hat ...“
Das Paradies der Riesenschildkröten befindet sich auf der kleinen Privatinsel Moyenne, fünfzehn Minuten Schifffahrt von Mahé. Seit 1962 gehört sie dem ursprünglich Yorkshirer Ex-Journalisten Brendan Grimshaw, der sich gerne als Robinson Crusoe sieht und dort mit einem einheimischen „Freitag“ zusammenlebt. Der heute 81-jährige Aussteiger hegt und pflegt über hundert Schildkröten aller Größen, die er durch orangefarbene Graffito-Aufschriften am Panzer unterscheidbar gemacht hat. „Tortoises haben auf meiner Insel Vorrang“, legt er die Regeln des Zusammenlebens fest. Gegen einen geringen Eintrittspreis können wenige Besucher von außerhalb sein Inselchen erforschen. Abgesehen von seinem hölzernen Wohnhaus, und dem Küchentrakt, wo Einheimische Helfer kreolisches Essen für die Gäste zubereiten, gibt es auf Moyenne: ein Muschelmuseum, eine Kapelle, drei Gräber (Brendans Vater und zwei „unhappily unknown“), eine üppige, vom Besitzer geplanzte Palmenvegetation und ein paar perfekte Strandbuchten. Brendan Grimshaw ist immerhin gelungen, sein vor der Tourismuszeit erworbenes Paradies fast ein halbes Jahrhundert lang nicht zu zerstören, nicht zu verraten, nicht zu verkaufen. „Es wäre idiotisch, nicht mit der Zeit zu gehen“, meint er und deutet auf sein Mobiltelefon. An Wochenenden, wenn die Insel für Gäste von außerhalb „geschlossen“ hat, gibt es nur noch das zurückgezogene Inselleben, die Schildkröten und die „fruit bats“, eine einheimische Fledermaus-Delikatesse.
Nur 80.000 Einwohner bewohnen insgesamt die Seychellen. Die Zahl der Schildkröten dürfte das Doppelte betragen: Behutsamer Umgang mit der Natur, der einzigen Ressource der Seychellen, charakterisiert einen Staat, der 70% seiner Einnahmen aus dem Tourismus lukriert und erst in den letzten Jahrzehnten zaghafte Exportversuche von etwa Fisch und Vanille unternommen hat. Die Einwohner, Nachkommen von europäischen Siedlern und Sklaven aus Madagaskar und Afrika, sprechen eine kreolische Sprache mit hohem französischen Wortanteil und romanischer Struktur, die jener von Mauritius ähnelt: das elegante Seselwa („Seychelloise“). Als Amtssprachen fungieren neben Französisch noch Englisch, Überbleibsel aus der britischen Ära, die nominell von 1811 bis 1970 dauerte, die letzten 67 Jahre allerdings als Kronkolonie. Und trotzdem verbreitet die Inselwelt der Seychellen, vielleicht auch aufgrund ihres relativen Wohlstands, an keinem Ort die postkoloniale Depression, wie sie etwa an einigen Orten der Karibik vorherrscht.
Die Mehrzahl der Bevölkerung lebt auf der Hauptinsel Mahé, wo die internationalen Flüge landen, in jener Stadt, die oft als „kleinste Hauptstadt der Welt“ bezeichnet wird: Victoria. Vom Hafen etwas zurückgesetzt, erzeugt sie mit ihren 25.000 Bewohnern keineswegs das touristische Kleinstadtgefühl, das vergleichbare Orte ausstrahlen. Der Markt ist quirlig, die Restaurants bummvoll, die Menschen sind nicht anders gekleidet als im nahen Port Louis oder im fernen New York man merkt rasch, die Leidenschaft der Victorianer ist das Shopping. Weil es eben doch nicht genug zum shoppen gibt, ergibt sich daraus die zweite Leidenschaft: das Reisen. Mauritius steht auf der Liste ganz oben, aber auch Südafrika und Singapur sind vielversprechende Destinationen, vor allem für Leute aus dem hochgelegenen Viertel Bel Air, wo die Häuser größer werden und die Hauseingänge breiter und alarmgesichert. An die Hauptstraße Bel Air Road schließt der Botanische Garten an. Gleich beim Eingang steht die einzige Coco de Mer außerhalb von Praslin und Curieuse. Ihre Früchte sind man kann es nicht anders sagen, weil man es nicht anders denken kann erigiert.