Martin Amanshauser

Rote Raupe im Sonnenaufgang

Im Morgengrauen schläft Serfaus. Kein Licht in den Hotels, ganz wenig Straßenbeleuchtung. Der Kirchturm zeichnet sich mattgrau im Nebel ab. Ein paar Frühaufsteher holen Schi und Schuhe aus den Kellern und stapfen zur Talstation Komperdell. Tiroler Revolutionäre? Schiunersättliche Spinner? Besoffene Nord- oder Osteuropäer? Seilbahnen und Sessellifte des Schigebiets Serfaus-Fiss-Ladis schlafen ja ebenfalls noch tief. Gar keiner da? Doch, einer der Offiziellen in den einheimischen blauen Schianzügen ist schon wach. Er heißt Elmar. Und als er die Frühaufsteher sieht, startet Elmar seine Pistenraupe.

Sein Gerät ist kein stinknormaler Bully. Dieses Riesending wurde extra für Passagierbetrieb umgebaut und heißt „Masner-Express“. In mehreren Reihen können die Gäste Platz nehmen. 18 Leute Maximalbesetzung. Innen wirkt es wie im Privatkino. Aber sobald Elmar sein dieselbetriebenes Ding bewegt, ist keine Rede mehr von Kino. Nach ein paar Metern wirkt der Masner-Express eher wie ein Tagada-Karussell. Start – und die Pisten rauf!

„Ich mag diese Uhrzeit gerne“, erklärt Elmar am Steuer, „man kann sicher sein, dass man von niemandem beschimpft wird!“ Und dann erzählt er, was ihm als Raupenfahrer über die Saison hinweg so alles widerfährt. Leute, die ihm wüst zuschreien, grell zupfeifen, Leute, die ihm den Vogel zeigen, Leute, die ihm mit Schlägen und Klagen drohen. Aber Elmar fährt ja nicht zum Spaß, und Rowdie ist er definitiv keiner. Er lenkt sein rotes Monster seit zwei Jahrzehnten mit aller gebotener Vorsicht. Nur eines kann er nicht: Er kann sich nicht in Luft auslösen. „Man muss die Leute lassen, wie sie sind“, bilanziert Elmar, aber es ist zu bemerken, dass er sich immer noch ein bisschen wundert.

Um 6 Uhr morgens ist keiner da, und Elmar kann Gas geben. „Manchen wird schlecht, aber die meisten halten diese Fahrt schon aus!“ Trotzdem dauert es eine gute halbe Stunde, bis der Gipfel erreicht ist: der Pezid, 2.770 Meter. Während Elmar und seine Gehilfen Tee und Sekt servieren, ist es noch halb dunkel. In den nächsten Minuten wird sich das Tiroler Gipfelmeer verfärben: grau, violett, orange-rosa, rot und dann gleißend gelb und hell! Ein unglaubliches Naturschauspiel für jene wenigen „Early Birds“, die sich anschließend die Pisten hinunterstürzen dürfen, zum Beispiel die schwarze Pezid-Vertikal-Abfahrt.

Serfaus war immer schon Avantgarde. Vor 25 Jahren ließen die Stadtväter eine Untergrundbahn bauen, die das Sackgassen-Dorf vor der winterlichen Menschenlawine und dem damit verbundenen stinkenden Bustourismus rettete: Die zweite (und zweitgrößte) von zwei österreichischen Ubahnen befördert auch im Jubiläumsjahr auf ihren Luftkissen in Spitzenzeiten unbeirrbar 1.500 Personen pro Stunde.

Später waren die Serfauser maßgeblich an der Entwicklung der „Zauberteppiche“ beteiligt. Darunter versteht man sind jene Aufstiegshilfen, die Kinder auf Förderbändern nach oben transportieren. Eignet sich auch für die ganz Kleinen. Serfaus-Fiss-Ladis – so heißt das Schigebiet im Ganzen – hat sich nie als Partymeile verstanden wie so mancher Nachbar, sondern immer als Familienschigebiet.

Mit der morgendlichen Fahrt per Masner-Express auf den Pezid sind die Serfauser wieder einen Schritt vorne: Bisher gab es in Österreich kein vergleichbares Angebot. Die Idee ist auch tatsächlich eine amerikanische und wird wohl nur an Orten funktionieren, wo keine Discos habituell die Nacht zum Tag machen. Aber es ist eine außergewöhnliche Idee. Denn die Morgenstunden verstrichen in Europas Schigebieten bisher weitgehend ungenützt.

Jetzt kann jeder die erste Spur über die frisch präparierten Pisten, oder gar, falls es Neuschnee gibt, durch den jungfräulichen Schnee ziehen, während das Sonnenlicht sich seinen unaufhaltsamen Weg bis in die tiefsten Tiroler Täler bahnt. Elmar findet das alles auch ziemlich super – aber er kann sich leider nicht anschließen. Tirol dreht sich weiter, die Fräsen und Walzen des Masner-Express auch. Elmar muss wieder runter zur Talstation, er muss die Pisten präparieren – und sich von Zeit zu Zeit von irgendeinem Nichtsahnenden total ungerechtfertigterweise den Vogel zeigen lassen.

Serfaus-Fiss-Ladis Information, A-6534 Serfaus/Tirol, +43/5467/6239, info@serfaus-fiss-ladis, www.serfaus-fiss-ladis.at

Unterkunft: z.B. Hotel Cervosa, Familie Westreicher, Herrenanger 11, A-6534 Serfaus, +43/5476/6211-0, info@cervosa.com, www.cervosa.com