Rom – Italien


„Der Standard“, 28. Mai 2004

Martin Amanshauser besuchte das Testaccio-Viertel und spazierte abseits der römischen Besucherströme am Fuße des „achten Hügel Roms“ über den akatholischen Friedhof, der im Schatten einer weißen Pyramide liegt.

Wir sind Pilger und Fremdlinge

Rom ist die Stadt der Geheimtipps. Manche Menschen begeistern die gruseligen Kapuziner-Knochenrosetten im Beinhaus an der Via Veneto, andere schwören auf Nanni Morettis Kino „Nuovo Sacher“ oder auf Pizza bei „Ai Marmi“ in Trastevere, und der Stadtkolumnist Marco Lodoli empfiehlt übersättigten Rombesuchern die Zuckerbäckerarchitektur rund um die winzige Piazza Mincio, ein Ort, der tatsächlich Münder öffnet, vor Erstaunen.

Die Ubahnstation „Piramide“ hingegen, die ist ein stinknormaler Knotenpunkt: Abfahrtsbahnhof zu Vorstädten und Stränden. Kaum jemand erforscht die dortige Mikrogegend Testaccio, rings um die Porta San Paolo, einst südliches Tor der Tiberstadt, heute festungsartiges Verkehrshindernis. Spektakulärstes Bauwerk ist die „Cestius-Pyramide“ mit der weißen, ehemals vergoldeten Spitze. Durch ihre Glätte und Perfektion wirkt sie wie die Installation eines Starkünstlers für die Kasseler Dokumenta. Doch der Volkstribun Gaius Cestius hat sich dieses supermodische Grabmal ägyptisierenden Stils tatsächlich im Jahre 12 v. Chr. errichten lassen, laut Inschrift „in 330 Tagen“.

An der Pyramidenmauer lagen früher die „Prati del popolo romano“, die Wiesen des römischen Volks, mit ihren Weinkellern und Schenken. Im 19. Jahrhundert florierte das Arbeiterviertel, heute sitzen Gastarbeiter in den Bars von Testaccio, trinken Campari und träumen von Poznán oder Kiew. Der Parco della Resistenza mit seinen Kinoaufführungen unter freiem Himmel, und mit kommunistischen bzw. ex-kommunistischen Festen, ist arg heruntergekommen. Sogar die Tauben scheinen einen außergewöhnlichen Verschmutzungsgrad vorzuweisen.

Auf der Rückseite der Pyramide schließt der „Cimitero Acattolico“ an, laut einschränkender deutscher Bezeichnung der „Protestantische Friedhof“. Unter Grabstättenfreaks gilt er als einer der schönsten der Welt. Die launischen Öffnungszeiten tragen ebenso wie das stets versperrte Eingangstor – man muss eine Glocke läuten – zur Legendenbildung bei. „Resurrecturis“, also „denen, die auferstehen werden“, sagt die Inschrift über dem Eingang, was aus katholischer Perspektive hinsichtlich der religiösen Ausrichtung der Begrabenen ziemlich optimistisch anmutet.

Der erste von circa 4.000 Leichnamen wurde 1738 beigesetzt. Damals war das Bestatten von Nicht-Katholiken nur in den Nachtstunden erlaubt, die Trauernden durften weder Kruzifixe noch andere christliche Symbole mitführen. Der Pöbel störte protestantische Trauerfeiern regelmäßig mit dem Ruf „Al fiume, al fiume!“ („In den Fluss!“).

Der „Cimitero Acattolico“ ist im Grunde ein Prominentenfriedhof, doch der Tod nivelliert. Die gestürzten und geflügelten Statuenengel, die lateinischen bis griechisch-orthodoxen Einmeißelungen, die bunten Namen von Carlo Emilio Gadda bis Woodsworth illustrieren das Leben und Sterben einer unhomogenen, allzuoft exaltierten Ausländergemeinde. Bei aller Noblesse herrscht drückende Stimmung. Zwischen Myrtensträuchern, Wildrosen und Zypressen hüpfen junge Katzen, krächzen alte Raben.

„O, hier tot zu liegen“, schrieb ein eher depressiver Goethe, der an der Cestius-Pyramide den Entwurf eines eigenen Grabmals zeichnete, „das wäre ja schön, unendlich schöner, als in Deutschland zu leben!“ Geschafft hat das letztlich nicht Johann Wolfgang von, sondern sein Sohn August Goethe, der 1830 in Rom starb. Dem Alkohol nicht abgeneigt, soll August auf den Spuren seines Vaters herzzerreißende Verse gedichtet haben: „Am Kapitol, am Kapitol / steh ich und weiß nicht, was ich sol.“ Nachträgliche Verleumdung? Jedenfalls verpasste der Vater ihm die denkbar degradierendste Grabsteinaufschrift „Goethe Filius“, mit dem Zusatz „patri antevertens obiit", also jener, der dem Vater vorausging. Nicht einmal der Vorname des Promisohnes steht vermerkt.

Weiter drüben liegt seit 1937 der italienische KP-Gründer Antonio Gramsci, zu Grunde gegangen an den Entbehrungen und Quälereien seiner Haftzeit, ebenso seit 2001 der amerikanische Beat-Poet Gregory Corso („The Bomb“), beide einen Katzensprung entfernt von Englands größtem Romantiker, Percy B. Shelley, im Juli 1822 als dreißigjähriger Nichtschwimmer auf einer Segeltour ertrunken und angeschwemmt im Golf von La Spezia. Sein Freund Trelawny blieb damals im Hafen zurück, als 88-jähriger fand er sein Grab an der gleichen Stelle.

Neben Bachs Enkel (Johann Sebastian Bach jun.) und Humboldts minderjährigem Sohn ruht hier auch der Dichter John Keats, 26-jährig von der Schwindsucht hingerafft: „This grave contains all that was mortal of a young English Poet. Here lies one whose name was writ in water.“ Unzählige mehr oder weniger anonyme Mitglieder der europäischen Gemeinden gerieten unter die Erde des „Cimitero Acattolico“, und manche ihrer Sprüche schwingen lange nach. „Rom, du bist eine Welt“, steht am Grab von Hans Barth und seiner Gattin Ida, und auf der Rückseite liest man: „Wir sind Pilger und Fremdlinge“.

Vom Friedhof, in entgegengesetzter Richtung der Pyramide, führt der Weg auf den „Scherbenberg“ oder Monte Testaccio, von dem einst im Karneval zum Gaudium des Volks Ochsen und Schweine bergab gejagt wurden. Auf 22.000 km2 erhebt sich der fünfzig Meter hohe Hügel („achter Hügel Roms“), der in seiner Substanz vorwiegend aus zerbrochenen Amphoren besteht – Abfall eines Binnenhafens, Fallbeispiel einer antiken Müllkippe. „In Rom habe ich in der Früh vom Protestantischen Friedhof zum Testaccio hinübergesehen und meinen Kummer dazugeworfen. Wer sich abmüht, die Erde aufzukratzen, findet den der anderen darunter“, schrieb eine andere römische Ausländerin, eine, die nicht für immer blieb: Ingeborg Bachmann.

Cimitero Acattolico per gli Stranieri al Testaccio, Via Caio Cestio 6, Rom, www.protestantcemetery.it

Literatur:

Marco Lodoli, Inseln in Rom, Aus dem Italienischen von Gundl Nagl, Hanser Verlag 2003.