Rio de Janeiro – Brasilien


„Der Standard“, 11. Februar 2005

Run auf den Erlöser

Milton Rocha ist ein nervöser Mann mit halblangen, fettigen Haaren. Ich bezweifle, ob ich gerne mit ihm unterwegs bin, aber es geht jetzt nicht anders. Der 55jährige steuert das Taxi durch das dampfende, schäumende Rio de Janeiro, dabei begeht er einen Fehler nach dem anderen. „Perdão, senhor“, entschuldigt er sich durch das heruntergelassene Fenster bei einem hupenden Auto, „desculpe, senhora!“, bei einer jungen Frau, der er über die Zehen brettert, „ich steh nur provisorisch auf diesem Zebrastreifen ... mit einem ausländischen Fahrgast!“

Niemand hört hin, es gibt einfach zu viele Wahnsinnige, um sich mit dem Einzelfall zu beschäftigen. Zwar ist Rio de Janeiro mit seinen 6 Millionen Einwohnern weder die Hauptstadt noch die größte Stadt Brasiliens (das sind Brasilia und São Paulo), doch sie erregt die Phantasie wie keine andere. Der Bossa Nova, der Caipirinha, die Sambaschulen – das alles steht für Lebensfreude und Vitalität der Cariocas, der Bewohner von Rio.

Ursprünglich war „Carioca“ das Indio-Wort für portugiesische Einwanderer, die den Ort am 1. Jänner 1502 „Fluss des Jänners“ nannten, da sie die Guanabarabucht irrtümlich für eine Flussmündung hielten. Die Klischee-Cariocas sind herzlich, weltgewandt und leidenschaftlich, besonders während dem Karneval, wo laut Volksmund „niemand niemandem gehört“, eine Freiheitsparole, die durchaus sexuell gemeint ist.

„Sie wollen zum Cristo Redentor, sind Sie da sicher?“, fragt Milton Rocha mit einer fahrigen Handbewegung. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass ich mir vollständig sicher bin, die dreißig Meter hohen Christus-Betonstatue mit ihren 1.145 Tonnen aufsuchen zu wollen, die über allem thront, auf dem Corcovado, dem „Buckligen“, wie der mit 710 Metern höchste „Morro“ von Rio de Janeiro genannt wird. „Wir drehen den Taxameter aus, ich fahre Sie zum Cristo, anschließend zurück, Sie zahlen hundert Reais, in Ordnung?“ In Ordnung, Herr Rocha. „Was sind Sie von Beruf? Wie???“ Milton Rochas Augenlider flattern. „Journalist – oh, mein Gott!“

Doch Milton Rocha ist kein Mann für langes Entsetzen. „Ich war 1974 das letzte Mal am Cristo ... Wie kommt man da hin?“ Alle paar hundert Meter hält er, fragt Taxikollegen oder Passanten nach dem Weg zur Haupttouristenattraktion. „Wo gehts hier zum Cristo?“ Ich vertraue Milton Rochas Kommunikationskünsten, obwohl man den Erlöser ohnehin von überall sieht – nicht immer mit ausgebreiteten Armen, oft schief, seitlich, doch majestätisch starr.

Die Cariocas verändern ihren Cristo nach Laune, bilden ihn nach einem Fußball-WM-Titel jubelnd ab, oder weinend, angesichts der fünfhundert Favelas, in denen auch unter der Präsidentschaft des sozialistischen Volkshelden Luiz Inácio „Lula“ da Silva ein Drittel der Stadtbevölkerung lebt. Auf Ansichtskarten wird die Statue gerne um 180 Grad gedreht, um beide Wahrzeichen – Corcovado und Zuckerhut – vorteilhaft abzubilden. „Zum Cristo geradeaus? ... Alle deuten in die gleiche Richtung, oder?“ Ja, Milton Rocha!

„Also Journalist? Sie sind sicher wegen dem Marathon hier ... diesen Giants of Rio. Oder?“ Genau, Milton Rocha. „Die armen Sportler, diese Hitze ... zuerst Schwimmen durchs Meer, hoffentlich ertrinkt da keiner! Dann Mountainbiken und Drachenfliegen, und noch der Lauf durch den Sand – die spinnen doch alle!“ Milton Rochas Taxi holpert und schnauft, den profillosen Reifen setzen Kopfsteinpflaster und Steigung zu. „Wer wird diesen Giants of Rio gewinnen?“

Ich stelle die Prognose auf, eines der beiden österreichischen Teams werde siegen, Milton Rocha wettet hingegen auf das brasilianische Team. Riskante Tipps: vierzig Vierer-Mannschaften aus achtzig Nationen starten im weltweit größten Staffelbewerb. Nicht nur Weltmeister und Olympiasieger sind dabei, auch Amateure und Hobbysportler. „Die Veranstaltung wird von diesem Kaugummigetränk gesponsert ... wie heißt das noch?“ Red Bull. „Exakt. Der Geruch ist zum Kotzen. Aber mein Enkel sagt, Opa da verstehst du nichts davon. Red Bull ist das coolste.“ Milton Rocha nickt befriedigt, fast verklärt – er gewinnt dem Gedanken einiges ab, einen Experten für Energiedrinks als Enkel zu haben.

Wir durchqueren den Urwald, der die Abhänge der Morros bewuchert, also jener Hügel, die das Bild Rios als „die Weltstadt ohne Raum“ prägen. Der „Mato virgem“, Dschungel mitten in der Stadt, zieht sich auch durchs Künstlerviertel Santa Teresa. Mit quietschenden Reifen überholen wir Rios letzte Straßenbahn, die dunkelgelbe „Bonde“, die über ein 250-jähriges Aquädukt Richtung Centro wackelt – Fahrgäste klammern sich außen an die Haltestangen, denn der Schaffner kassiert den Fahrpreis nur bei den innen Sitzenden: Rio kann es sich leisten, seine Schwarzfahrer zu ignorieren.

Nicht nur in der Straßenbahn, auch städtebaulich ist Rio de Janeiro mit seinem kolonialuntypischen wirren Grundriss ein Lehrbeispiel für Platznutzung. Die „Cidade maravilhosa“ liegt wie zum Sprung geduckt an den Hängen ihrer Morros. Wie nirgendwo sonst werden auch in der Architektur die Grenzen zwischen Schönheit und Wahnsinn ausgelotet. Die wilden Siedlungen, wo sich jeder den Strom irgendwo abzapft, gehören ebenso logisch zum Gesamtzusammenhang wie die enge Serpentinenstraße mit den Jahrhundertwendehäusern. Über einen dieser Wege werden morgen die Mountainbiker ihre Räder hinaufschleppen, und später werden sie von Hitzewänden erzählen, die ihnen frontal entgegen kamen.

“Nach Rio wird uns alles zur Enttäuschung”, hat Stefan Zweig gesagt, der seinem Leben – nicht deshalb – 1942 in Petrópolis, achtzig Kilometer weiter im Norden, ein Ende setzte, nicht ohne in seinem Testament begeisterte Worte für die brasilianische Gastfreundlichkeit zu finden. Plötzlich hört man Schüsse. „In den Favelas herrscht sowieso Krieg“, ruft Milton Rocha gut gelaunt und gibt Gas. Jetzt kann auch ich eine Geschichte erzählen: die von den österreichischen Mountainbikern des Giants of Rio. Beim Akklimatisieren fuhren sie – unsere Radler sind ja bekanntlich teuflisch schnell – versehentlich in eine Favela, und dort wurde, warnschussmäßig, in die Luft geballert. „So schnell bin ich noch nie davongeradelt“, meinte Michael Weiss, immerhin Olympiastarter, nach diesem Abenteuer.

Trotzdem behaupten Optimisten, die Zeiten, als die Umwandlung der Exekutive in eine weitere Räuberbande beklagt wurde, seien bald vorbei. Unter Lulas Regierung erobert sich der Staat verlorenes Terrain zurück, verbessert die Infrastruktur, Aufbruchsstimmung ist bemerkbar. In den Nuller Jahren herrscht endlich auch in Rio de Janeiro ein Hauch jenes für europäische Begriffe etwas bescheuerten Sinnspruchs „Ordem e Progresso“, der traditionell die brasilianische Fahne ziert („Ordnung und Fortschritt“). Als Ausgleich zur verordneten Sittlichkeit sorgt „Globo“ für die allgegenwärtige Unterhaltung, eines der weltweit größten TV-Imperien, Schöpfer der klassischen Telenovela, dem moralischen Gegenbild der brasilianischen Gesellschaft.

„Bitte sehr, das ist unser Erlöser!“ Milton Rocha bringt das Taxi mit einem Ruck zum Stillstand. „Ich warte im Wagen.“ Aus der Nähe hat die Statue des Cristo Redentor, erreichbar per Lift und Rolltreppe, etwas leicht borniertes und übergewichtiges. Allein ihr Kopf ist hoch wie zwei NBA-Basketballer, die übereinander stehen. Auf der Plattform an seinem Fuß stehen die Menschen ebenfalls fast übereinander, sie balgen sich um die Aussichtsplätze zum Panorama: In der Schlucht liegt die Lagune Rodrigo de Freitas, zum Greifen nahe die Copacabana, berühmtester Strand der Welt, daneben Ipanema, seine mondäne Schwester. Der Streifen zwischen Lagune und Atlantik bezeichnet ein Lebensgefühl, das jeder kennt. Bossa-Nova-Miterfinder Tom Jobim („Girl from Ipanema“) hat einmal gemeint: „Von sozialer Gerechtigkeit wird man in Brasilien nur sprechen können, wenn jeder das Recht hat, in Ipanema zu leben.“

Auf der anderen Seite zeichnet sich vage der Pão de Açucar ab, der Morro namens Zuckerhut – wie so oft ist heute eine Wolke an seinem Rücken hängengeblieben. „Oh, da ist er ja, der Senhor Journalist!“ Milton Rocha steht plötzlich freudestrahlend neben mir, als wäre er vom Himmel gefallen. „Und er hat keinen, der ihm den Ausblick erklärt! Mit dem Cristo Redentor hat er allerdings heute aufs richtige Pferd gesetzt ... die armen Touristen, die tausende Kilometer fahren, extra die Seilbahn auf den Zuckerhut nehmen und dann ... nichts ... absolut null Sicht!“

Milton Rocha und ich, wir fahren eine halbe Stunde später die Serpentinen vom Corcovado bergab. Er verliert kurz die Kontrolle über den Wagen, nur ein paar Zehntelsekunden, aber lange genug, um mit dem rechten Vorderreifen gegen einen spitzen Randstein zu stoßen. Ein Rucken, ein Rütteln, ein Zischen. „Merda, furou o pneu!“ Nach fünf Sekunden ist der Reifen platt. Milton Rocha fährt sich mit den Händen durch die fettigen Haare. Wir befinden uns mitten im Urwald, und wir nicken beide. Wir nicken sehr nachdenklich.

Am nächsten Tag gewinnt das australische Team den Event „Red Bull Giants of Rio“ vor Brasilien und Österreich. Die Hotelseife riecht hervorragend, doch sie hilft gar nicht gegen verölte, schwarze Finger.


Die Veranstaltung „Red Bull Giants of Rio“ ist unter www.redbullgiantsofrio.com nachlesbar