Venedig – London – Orient Express


„Der Standard“, 13. Dezember 2002


Tee in Innsbruck

Eisenbahnfahren wird europaweit immer grauenhafter. Die Sechserabteile, in denen man die Sitze zur „Polsterwiese“ flach legen konnte, werden sukzessive durch eisig klimatisierte Großraumwaggons ersetzt, wo man sich in Schalensitzen (teilweise mit fixierten Armlehnen) den Hexenschuss anzüchtet. Wie zum Hohn werden Inter- und Eurocitypassagiere über Lautsprecher „an Bord“ willkommen geheißen, entlarvendes Eingeständnis, dass Züge mittlerweile ebenso unbequem sind wie Flugzeuge.

In Österreich werden Zugreisen angesichts des Niedergangs der ÖBB (sie selbst nennt es „Modernisierung“) immer unerfreulicher: Preiserhöhungen, Auflassung von Nebenstrecken, peinliche Zugnamen, Abschaffung der Speisewägen, millionenteurer Umbau alter öder Bahnhöfe in neue öde Bahnhöfe. Das alles wird mit Mühe kaschiert vom eher beängstigenden Boom einer hochprofessionellen PR-Abteilung (Gorbatschow und Schwarzenegger in TV-Spots).

Wer das Schimpfen satt hat und den Höhepunkt europäischer Eisenbahnkultur erleben möchte, ohne von der österreichischen Tragödie belästigt zu werden – wem es also egal ist, wohin die Reise geht, Hauptsache, man ist stilvoll unterwegs –, der kann jederzeit einen Zug aus dem alten Europa besteigen. Wollten Sie schon immer am Fenster stehen, und die Passanten auf den Bahnsteigen machen bei Ihrer Durchfahrt große Augen?

Der Venice-Simplon-Orient-Express (VSOE) fährt von März bis November auf diversen Routen durch Europa. In der Einzel- oder Doppelkabine (Suiten entstehen durch Zusammenlegung zweier Abteile) ist alles von ausgesuchter Eleganz: das glänzende eingelassene Holz, die rosafarbenen Lampenschirmchen Typus Asia, die persischen Hängepolster, die perfekt geölten Fensterkurbeln. Draußen der etwas monströse Zahnarztgeruch der Toiletten, der Maître d´Hôtel mit seinen livrierten Stewards, ein Barwagen mit blond gelocktem Jüngling am Piano, drei Restaurantwagen, in denen man niemals „overdressed“ sein kann. Bei einer Reise im Orient-Express ist der Weg das Ziel, Dekadenz ist die real existierende Lebensform. Die Damen tragen Abendkleider, der Gestus der Herren mit den schwarzen Fliegen ist fast Original – nur Zigarrenrauch wird ungern gesehen.

Dem Orient-Express haftet ein Missverständnis an: Istanbul-Paris ist keineswegs die Hauptroute, nur ein Klassiker unter vielen. Seit der Belgier Georges Nagelmackers 1876 die „Wagon-Lits Company“ gründete, befuhr der VSOE unterschiedlichste Strecken. Nach Erweiterungen des Schienennetzes wurden Warschau, Athen und Bukarest angefahren, die Transsibirische Eisenbahn mit Waggons des expandierenden Unternehmens bestückt. Es war die Ära der Filmstars und Salondichter, der vollbärtigen Staatsmänner und depressiven Aristokraten. In den Zwanziger und Dreißiger Jahren florierten die Exklusivzüge, ehe NS-Deutschland sein Bahnnetz abkappte.

Im Weltkrieg büßte Wagon-Lits 845 Wagen ein; Deutschland missbrauchte einige zu militärischen Zwecken, andere dienten als Bordell. Nach dem Krieg geriet die gesamteuropäische Zugsidee durch die Grenzschließungen im Osten neuerlich in Gefahr. In einer Zeit, die Modernität über Nostalgie stellte, kamen Luxuszüge außer Mode. Einige wurden nach Spanien und Portugal verkauft, eine Art Rumpf-Bahn verkehrte noch, doch am 19. Mai 1977 verließ der letzte klägliche Orient-Express den Gare de Lyon in Paris: drei Schlafwagen und ein Personenwagen.

Der Aufschrei, der durch die Medien ging, war sozusagen die Basis für den Neustart des 1982 revitalisierten VSOE, dessen Erfolgsstory schon zwanzig Jahre anhält. Ohne Verrat an der Geschichte zu begehen (Klos gibt es nur am Anfang und Ende des Gangs) wurde behutsam renoviert. Ein charmanter Zug für Liebhaber mit Fassungsvermögen von bis zu 176 Fahrgästen ist entstanden, jeder Waggon hat seine gloriose Vergangenheit und mag etwa im Train Bleu (29-37) gedient haben, im Nord Express nach Riga (37-39), während des 2. Weltkriegs als Hotel in Lyon, dann wieder im Train Bleu (45-61), im Simplon-Orient-Express (61-69) und im Costa Vasca Express (69-71).

Spektakulär ist die Reise von Venedig nach London, Klassiker des VSOE, schon vom Landschaftlichen her: man schlängelt sich durch Südtiroler Weinberge und Vorarlberger Berglandschaften, entlang Schweizer Seen, durch nordostfranzösische Ebenen. Bei Verona genießt man ein Risotto, in Innsbruck wird Earl Grey mit Kuchen serviert. Zurück im Abteil, nachdem man die Tür von innen verschließt, denkt man an Stories wie „Stamboul Train“ von Graham Greene oder an Agatha Christies „Murder on the Orient Express“ – was, wenn der Unhold schon herinnen ist? Nach einem kurzen Kontrollblick in die Garderobe schaukeln einen die vielsprachigen Dauerbrenner-Aufschriften, „Ne pas se pencher au dehors“ und „É pericoloso sporgersi“ in Sicherheit und Heimatgefühl, nahe Belfort schlummert man ein.

Wen kann man an der Bar treffen, die erst zusperrt, wenn sich der letzte Gast zu Bett begeben hat? Zum Beispiel die nette IT-Managerin aus Boston, die im Frequent-User-Programm des Eurotunnelzugs Bonuspunkte gesammelt hat, um sich diesen Lebenstraum zu erfüllen. Oder den chinesischen Firmenboss, der das Gerücht widerlegt, Chinesen würden keinen Kuhkäse essen. Natürlich sind auch ein paar „Good evening. Having fun? That´s great!“-Amerikaner dabei, eingebettet in den gepflegten Komfort der Belle Époque. Der Orient-Express ist ebenso wie sein Publikum keineswegs abgedreht.

Jedenfalls verschwindet auf dem festen Grund der Institution Zugrestaurant (der erste Speisewagen wurde 1881 in München gebaut) jeder eventuell noch im Nebenhirn vorhandene ÖBB-Groll in Grund und Boden. Am zweiten Tag gibt es Langusten (in Paris lebend in den Küchenwaggon gehievt) und Parmesan-Crisps. Wer außerhalb der (inkludierten) Menüs wildern möchte, kann Beluga-Kaviar für 235 EUR bestellen, auch einen Piemontiner Weißwein für 220 EUR; für ein Zwanzigstel dieser Summe kriegt man eine Extraportion „Aniseed and Almond Pastry“, oder man investiert 15 EUR in eine Halbliterflasche Beaujolais.

Der Zauber wird nur kurz gebrochen, und zwar bei Calais. Nach einem 35-minütigen Abtauchen in die eher unelegante Eurotunnel-Röhre werden die Fahrgäste in Dover von einer britischen Trompetenkapelle zur letzten Etappe willkommen geheißen: Denn bis heute besteht deshalb der VSOE aus zwei Zügen, dem dunkelblau glänzenden Wagon-Lits in Festlandeuropa und dem britisch-cremegelben Pullman auf der Insel. Georges Nagelmackers britisches Pendant, George Mortimer Pullman, betrieb nämlich ab 1864 Großbritanniens eigenständige, queen- und kingerprobte Schienenflotte. Die luftigen Pullman-Salonwagen gleiten durch die Grafschaft Kent, britisches Teegebäck mit Schlagobers wird serviert.

Aus all diesen Gründen ist es überhaupt nicht schrullig, sondern eigentlich ziemlich cool, wenn man ein Ticket für den Venice-Simplon-Orient-Express löst. Weit besser als ein Ticket für den österreichischen Zug „Unser soziales Österreich“. Kein Witz, der existiert tatsächlich!


Der Venice-Simplon-Orient-Express (VSOE, benannt nach dem 1906 erbauten Simplon-Tunnel) ist ein Zug von „Orient-Express Trains & Cruises“, einem Spezialveranstalter für exklusive Zug- und Flusskreuzfahrten (www.orient-express.com). Die Strecke Venedig-London dauert 32 Stunden. Man bucht im Reisestudio Ikarus (Generalvertretung für Österreich), www.ikarus.at, Langwiesgasse 22, 1140 Wien, 01/4924095, office@ikarus-dodo.at