Konservative Revolution

Große Gewässer, hohe Vulkane, hartnäckige Führer: Nicaragua ist eine Natur- und Politdestination. Eine Betrachtung anhand von Managua, León, Granada und Matagalpa.

Am 19. Juli 1979 wurde die Loma de Tiscapa, ein vulkanischer Stadthügel, das perfekte Plateau für einen Blick über Managua und den gleichnamigen See, von den Sandinisten eingenommen. Zwei Tage zuvor war der vorletzte Somoza, der zu diesem Zeitpunkt ein Viertel des Staatsvermögens besaß, nach Florida geflüchtet. Auf der Plattform wird einem anderen Mann gedacht. Da thront ein mehrere Meter hoher schwarzer Schattenriss, auf den ersten Blick unschwer als der berühmte Portwein-Mann zu erkennen – doch in Wahrheit ist es der Freiheitsheld Augusto César Sandino, der hier auf der Loma am 21. Februar 1934 sein letztes Abendessen zu sich nahm. Er war von seinen Widersachern aus dem Somoza-Clan zu einem Versöhnungs-Bankett eingeladen worden, als die Nationalgarde ihn und seine Mitstreiter mit Kugeln durchsiebte. Somoza sei „ein Bastard“, räumte US-Präsident Roosevelt in einem berühmten Diktum ein, „but he is our bastard“. Was wie der Schlussstrich unter eine Bewegung aussah, mündete in einem achtzig Jahre langen Machtkampf der Blöcke, ehe es gerade dem umstrittenen Sandinistenführer und aktuellen Präsidenten Daniel Ortega gelingen sollte, durch ein Proporzsystem die Versöhnung herbeizuführen.
Der kleine, graue Panzer, der einem Somoza von Mussolini geschenkt worden war, steht noch immer neben dem Portwein-Sandino und zeugt von einer Geschichte, die fast jedes Gespräch zu Politik werden lässt. Dabei hat die Loma de Tiscapa, die Fläche neben dem Kraterrand eines Vulkans, durchaus unpolitische Reize. „No se permite licor ni cerveza“ steht auf einem vergilbten Schild, denn die Nicos feiern für ihr Leben gerne. An einem Drahtseil kann man mit „Canopy Tiscapa“ aus einer Holzhütte über den Kratersee in die südliche Vorstadt rutschen – auf der anderen Seite überblickt man eines der Herzen Managuas. Da ist die sandinistische Prunkstraße, da Revolutionsplatz, daneben die alte, vom Erdbeben 1972 zerstörte Kathedrale, die entkernt und nie wieder mit Leben erfüllt wurde. Der Ausblick enthüllt aber auch, dass Managua eine Stadt ohne wirkliches Zentrum ist, ungeliebt und von Landflucht überrannt, endlos und grün. Mehr noch als New York ist Managua eine Stadt der Villages. Die Panamericana – die Schnellstraße zwischen Alaska und Feuerland, hier heißt sie Interamericana – führt quer durch die Metropole, und an ihren Seiten blühen Dutzende kleiner Viertel und mehrere der 13 Managuer Fastfoodlokale namens Tip-Top, die Hühnerspezialitäten mit Chimichurri anbietet, den lokalen Chili-Mix.

Spröde und revolutionär. Knapp 100 Kilometer entfernt liegt Santiago de los Caballeros de León, nur sagt das so keiner. Die zweitgrößte Stadt Nicaraguas, León genannt, war vor dem Preisverfall in den Achtzigerjahren ein Baumwollzentrum. Mit ihren einstöckigen, kolonialen Häusern wirkt sie deutlich weniger urban, ist aber gut überblickbar. Das Zentrum der grazgroßen Kolonialstadt ist von Dutzenden Kirchen geprägt, in denen es vor Gläubigen nur so wimmelt. Die erdbebensichere Kathedrale mit dem Grab des Nationaldichters Ruben Dário (1867-1916) wirkt wie ein resignierter Frosch, auf dessen Kopf man übrigens spazieren kann – die Iglesia de la Recolección überrascht mit ihrer auffälligen orangefarbenen Barockfassade.
León bietet nicht nur Pferdefuhrwerke, Stände mit Äpfeln und DVDs, sondern auch Nachtleben um die Plaza, Billardcafés, den Nationalrum Flor de Cana, das mitternächtliche Fast Food aus Wohnwägen namens Capy, Lulu oder Chela, die auch den berühmten Raspado anbieten, ein Eiswürfelgetränk mit süßen Fruchtsirups. Und irgendwann taucht immer der halbwüchsige Junge auf und verkauft eines seiner Gedichte für einen Dollar.
Wie nirgends anders verbindet sich im intellektuellen León die katholische Identität mit sozialrevolutionären Idealen, was sich in vielfältigen Wandmalereien über Héroes y Mártires ausdrückt. Bis 1858 genossen die Bewohner abwechselnd mit Granada die Hauptstadtwürde, dann kam Managua zum Zug. Der Innenhof, in dem der 27-jährige Dichter Rigoberto López Pérez an einem heißen Septembertag 1956 den Regenten (einen Somoza) erschoss, und postwendend durch 35 Kugeln ums Leben kam, ist heute nicht zugänglich – der Türwächter winkt ab, nein, eigentlich dürfe er das den Leuten nicht mehr zeigen.

Elegant und beliebt. Jeder mag Granada. Eine der ältesten Städte der Neuen Welt, dem gewerkschaftlichen León traditionell in Rivalität verbunden, postkartentauglich und bürgerlich-konservativ, lässt vor allem das schmutzige und laute Managua rasch wie einen düsteren Kinofilm wirken. Der 1.345 Meter hohe Vulkan Mombacho übertrifft alles, er ist aktiv und sendet manchmal aus seiner unergründlich heißen Finsternis ein paar Rauchwolken. Im Naturpark regieren Affen, Vögel und Orchideen. Granada, elegante Hafenstadt am Nicaraguasee, fiel immer wieder Piraten zum Opfer, 1685 setzte sie sogar der spätere Entdecker und Weltumsegler William Dampier (1651-1715) in Brand.
Der Gran Lago de Nicaragua oder auch Cocibolca, 8.264 Quadratkilometer Fläche, also fünfzehn Mal der Bodensee oder sechsundzwanzig Mal der Neusiedlersee, ist das größte Trinkwasserreservoir Mittelamerikas. Hier lebt der Schwerthai (auch Gewöhnlicher Sägefisch), nach dem letzten Bullenhai, der einst zu einem Boom in der Fischerei führte (Haifischflossensuppe), wird indes gefahndet wie nach dem Ungeheuer von Loch Ness. Eine ziemliche Gefahr für das ökologische Gleichgewicht stellen Viktoriabarsche dar, die aus den Aquakulturen entkommen sind und sich auf Kosten der endemischen Fauna vermehren. Das größte Wunder sind jedoch die sagenumwobenen Inseln Zapatera und Ometepe, mit ihren erst spät berührten weißen sowie schwarzen Sandstränden. Ometepe gehört zu den geheimen Weltwundern, zwei Vulkane, einer aktiv, einer erloschen, verbunden durch eine Landbrücke – eine Kajak- und Badedestination, wie durch ein Wunder von Menschenmassen bisher verschont. Doch die Mountainbiker haben das doppelte Inselchen in Form der Zahl 8 bereits entdeckt.

Ölspuren. Bald wird es mit der Ruhe am Nicaraguasee vorbei sein – Nicaragua plant „El gran canal“. Präsident Ortega zögert nicht, für einen Deal mit der HKND-Holding (Hong Kong Nicaragua Canal Developement), ohne nationalen Konsens und ohne seriöse Machbarkeitsstudie das größte Projekt der Geschichte Nicaraguas an ein ausländisches Privatunternehmen. Hinter der HKND steht der Magnat Wang Jing, unter Umständen auch der chinesische Staat mit seinem Interesse an kurzen Transportwegen für venezuelanisches Erdöl. Die Route der 278 Klometer langen Wasserstraße, der direkten Konkurrenz für den Panamakanal, wird quer durch den Nicaraguasee verlaufen. Nie hat das Land ein größeres Bauprojekt gemeistert. Man spricht von 5 Prozent des Welthandels, der hier ab 2020 durchfließen soll, und von 200.000 Arbeitsplätzen. Die Chinesen erhalten dafür 50 Jahre Nutzungsrechte samt einer Option auf weitere 50 Jahre, jährliche Abgeltungen sollen an Managua fließen. Bald werden durch das größte Trinkwasserreservoir Mittelamerikas die Öl-Megatonner gleiten.
Die Holding lieferte nicht nur das Finanzierungsmodell über 40 Milliarden Dollar und die genaue Streckenführung, die lange geheim gehalten wurde, sondern auch dazugehörige Umweltgutachten, die allesamt positiv ausfielen. Obwohl die meisten Fragen offen sind, erfolgte im Dezember 2014 der Spatenstich.

Kaffeespuren. Erster Eindruck von Matagalpa: Zwei schwarze Geier machen sich über einen  kleinen toten Hund am Straßenrand her. An seinen Hängen ist das Klima frisch und kühl, ideale Bedingungen für Kaffeeanbau. Obwohl die Ernte etwas zurückgegangen ist – man kämpft gegen die orangefarbene Pilzkrankheit „Kaffeerost“ – liegt Matagalpa von der Wirtschaftsleistung her gleich hinter Managua.
Hier im Norden ist alles extremer, die Unterstützung für die Sandinisten am stärksten, jene für Jesus sowieso. „Venta de materiales y construcción, jehova es mi pastor“ heißt eine Baufirma, „Verkauf von Baumaterialien, Jesus ist mein Hüter“. Für Daniel Ortega werben Dutzende bemalte Busstationen. Der Guerillero, Armeechef, moderate Realpolitiker und Israelfeind, 1998 von seiner Stieftochter wegen Missbrauch angeklagt, freigesprochen wegen Verjährung und Unaufklärbarkeit der Vorfälle, verschaffte sich durch Beugung der Verfassung eine dritte Amtszeit, gewann die Präsidentenwahl 2011 mit zwei Drittel der Stimmen. Die verdankte er auch einer politischen Kehrtwende, seiner Versöhnung mit der katholischen Kirche und seiner Zustimmung zum Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.
So wie die Taten der zerstörerischen Guerillabewegung (Contras) wurde auch „La Piñata“, die Selbstbereicherung sandinistischer Führer im großen Stil während der Machtübergabe vergeben – zu den vitalen Eigenschaften der Nicos gehört das schnelle Vergessen. Heute ist Nicaragua eine stabiles mittelamerikanische, naja, Demokratie. Der Taxifahrer, der nun endlich auch in einer Amanshauser-Reisegeschichte zu Wort kommt, sagt dazu lapidar: „Nur die Europäer wollen dauernd über die Revolution sprechen. Ihr liebt einfach die Vergangenheit.“

 

MARKTTIPP
Mercado Roberto Huembes. Kein Touristen-Ort, doch sicher. Die meisten Menschen lernen den Markt nur als Rückseite der gleichnamigen Busstation in den Süden kennen, doch er ist erstaunlich – eigentlich kein Markt, sondern ein ganzes Stadtviertel, und voll mit allen Waren und Dienstleistungsangeboten, die der gelernte Nico benötigt. Managua, an der Pista de la Solidaridad und dem Boulevard Don Bosco

KUNSTTIPP
León, die Stadt mit dem coolsten Nachtleben, bietet selbstverständlich auch die tollsten revolutionären Wandmalereien, manche rührend, manche windschief, manche einfach nur schön – ein Monument der menschlichen Hoffnung auf bessere Zeiten. Santiago de los Caballeros de León, Innenstadt

KAFFEETIPP
Selva Negra bei Matagalpa. Als Eddy Kuhl und Mausi Hayn 1967 heirateten, brachten sie zwei deutsche Einwandererfamilien aus den 1890er zusammen, heute betreibt die Familie das Selva Negra, eine Mischung aus Familienhotel, Regenwald-Trekkingstation und Kaffeefarm. Sie vermitteln Wildlife Touren, nachhaltig-alternative Kaffeetouren und vermieten Pferde. www.selvanegra.com

GETRÄNKETIPP

Neben dem Nicaraguanischen Bier (Toña oder Victoria Clásica) ist ein Getränk namens Pinolillo berühmt, das aus geröstetem Maismehl mit Kakao besteht – schmeckt wunderbar, weil endlich etwas meist ungesüßtes in einem Zuckerland. Serviert wird es in einer Kalebasse, die oft auch für touristische Zwecke verkauft wird und am Regal steht. Die Nicos nennen sich stolz „Pinoleros“.

BOOTSTRIP
Man kann Granadas Miniarchipel von 365 Seeinseln mit seltenen Vögeln, kleinen Hotels und sogar einer spanischen Festung, von denen man den Vulkan Mombacho, der sie erschaffen hat, gut sieht, auch selbst mit Kajaks befahren. Viele der Inseln sind naturbelassen. Es gibt Konflikte zwischen ursprünglichen Inselbewohnern und Investoren, die auf dem Land ihre Objekte „entwickeln“. Inuit Kayaks, nahe Centro Turistico, Las Isletas, Granda.

Der Autor war eingeladen von der Central America Tourism Agency (CATA) sowie den Fremdenverkehrsämtern von Costa Rica (ICT) und Nicaragua (INTUR).