Namibia


„Der Standard“, 9. Mai 2003

Martin Amanshauser besuchte in Afrika einen der jüngsten Staaten der Welt, noch dazu einen der deutschesten, und er fand dort unter anderem die Welwitschia Mirabilis, eine österreichische Pflanze, die bis zu 2.000 Jahre alt werden kann.

Wurst in der Wüste

“Straußenzucht ist eine heikle Angelegenheit”, meint Lucia und deutet auf die langhalsigen Großvögel hinter Gitter, zu hunderten aufgereiht bis zum Horizont. “In den ersten drei Monaten ihres Lebens sind Strauße derart empfindlich, kaum guckst du sie einmal schief an, kippen sie aus den Latschen.” Lucia Schörghofer, diplomierte Rangerin, ist “Südwesterin” aus dem ehemaligen “Deutsch-Südwest-Afrika”, heute Namibia, seit 1990 unabhängig vom Nachbarn Südafrika.

Trotzdem ist die drahtige Mittdreißigerin Österreicherin, jedenfalls von Pass und Vater her. Als Kind einige Zeit in Salzburg verbracht habend, schaltet sie je nach Gesprächspartner zwischen bundesdeutsch und breitem Salzburgerisch hin und her. „Doppelstaatsbürgerschaft ist für Österreich komischerweise ein rotes Tuch. Verlangt man die, werden die ganz wild. Denn wir Südwester behalten gern unsere Ursprungsstaatsbürgerschaft, falls hier in Afrika was schief laufen sollte.”

Namibia, 1,9 Millionen Einwohner auf der dreifachen Fläche Deutschlands. Lebensbestimmender Faktor ist die Wüste Namib, gemeinsam mit dem Atlantik. Kernaussage jeder Klimaanalyse: es regnet nicht – oder kaum. Auch nicht in Windhoek. Die Hauptstadt, ein Siebziger-Jahre-Konglomerat aus Einfamilienhäusern mit einem vitalen Fachwerkzentrum, hat die Größe von Graz und den Charme von Villach. Hier erscheint die “Allgemeine Zeitung”, tägliches Organ der deutschen Volksgruppe, die ganz zu Unrecht im Ruf des Ewiggestrigen steht. Die Deutschen leben ebenso wie ihre burischen Mitbürger, wenn auch teilweise separiert, so doch im Einklang mit dem Mehrheitsvolk der Ovambos und den anderen schwarzen Völkern wie Hereros, Kavangos, Namas, Damaras und San; Umgangssprache ist Afrikaans, Amtssprache Englisch.

Wer in Namibia als Individualtourist unterwegs ist, der ist entweder charakterlich echt rätselhaft (Wüstencycler aus Thüringen), abenteuerlustig (einsame Wüstenpisten) oder reich (Mietautopreise). Die Realos schließen sich Reiseveranstaltern wie Studiosus oder Agenturen vor Ort an. Sie alle fahren in die Namib oder ans Meer. Oranjemund etwa, ganz im Süden, ist fast unbekannt, weil als Diamanten-Umschlagplatz nur für Businessleute zugänglich. In Lüderitz (15.000 Einwohner) treibt ein eisiger, beinahe lebensfeindlicher Wind scharfe Sandpartikel durch Türritzen, unter Motorhauben, in Nase und Augen. Das Meer hat Gänsehaut und schäumt. Man kann sich die Bestürzung Vasco da Gamas vorstellen, als er hier vor einem halben Jahrtausend an Land ging. Die Sonne brennt senkrecht vom Himmel, doch nichts wird wirklich heiß. Auf den Felsen über dem Stadtzentrum steht eine evangelische Kirche, an der Waterfront verkümmern die Shops. Die Attraktion liegt einige Kilometer außerhalb: die Geisterstadt Kolmannskuppe.

Vor hundert Jahren war das Diamantenzentrum Kolmannskuppe eine boomende Kolonialstadt mit Gastwirtschaft, Schule, Krankenhaus. Übrig geblieben sind Gebäude, die bis zu den Knien im Sand stehen. Zerbrochene Fenster, Sand auf dem Schiffsparkett, hier und da ein Waschbecken und eine gekachelte Mauer: Mietobjekte der Kategorie D minus, gleichzeitig ein Museum für die Kraft der Natur. Nicht weit von den desolaten Häusern ein Stacheldrahtzaun: Hier beginnt das peinlich kontrollierte “Diamanten-Sperrgebiet 1”, verantwortlich für Namibias Nulldefizit.

Nördlich davon erstreckt sich der Namib Naukluft Park, ein Gebiet von der Größe der Schweiz. Sein spektakulärstes Naturspektakel sind die Dünen von Sossusvlei, bekannt aus Auto- und Bierwerbung. Die Kämme fein wie mit einem Messer geschnitten, liegen die orangefarbenen Dünen in der zerklüfteten Landschaft. Der nächste Ort, Maltahöhe, einsame zweitausend Einwohner auf 800 Metern Seehöhe, leistet sich acht öffentliche Fernsprechzellen, als wolle man beweisen, mit der Welt in Kontakt zu stehen. “Maltahöhe liegt nicht am Arsch der Welt. Aber man kann ihn schon sehen”, steht auf dem einzigen Aufkleber, den Maltahöhe hervorgebracht hat.

Über das Khomas-Hochland geht es hinunter an die Küste, weite, sandige Ebenen, Klüfte und Canyons, Dünen und Hügel, Bergzebras und Springböcke, Flechten, Büsche, und dazwischen eine außerordentliche Laune der Natur: die Welwitschia Mirabilis. Es ist geradezu eine österreichische Pflanze, denn Professor Friedrich Welwitsch hat sie 1859 entdeckt. Aus zwei zerfransten Blättern bestehend, benötigt die bizarre Welwitschia mit ihrem drei Meter tiefen Stamm und den feinen Wurzelchen im 2-Meter-Umkreis tatsächlich nur ein Minimum an Wasser bzw. kondensiertem Nebel und kann bis zu 2000 Jahre alt werden. Die Wunderpflanze bekam später den Namen des Professors, im bildhaften Afrikaans allerdings heißt sie Tweeblaarkanniedood, also “Zwei-Blätter-können-nicht-sterben”.

Weniger karg geht es an der Küste zu: Swakopmund, 20.000 Einwohner, quirlig, wunderbar deutsch. “Swakopmund ist die Lieblingsstadt der Südwester”, erzählt Lucia Schörghofer, “hier verbringt Namibia den Sommerurlaub.” Trotz des eisigen Atlantiks (der Benguelastrom bringt Robben und Delphine) gibt es Strandflair – und ein “Brauhaus” mit Apfelstrudel, Bratwurst oder dem Nationalgetränk Rock Shandy, eine Mischung aus Soda, 7-Up und Angostura Bitter. Das etwa 50 Kilometer entfernte Walvis Bay (“Walfischbucht”) ist hingegen das Zentrum der Fischverarbeitung und liegt laut einhelliger Auskunft ebenso wie Maltahöhe nicht am Arsch der Welt, wiewohl man diesen zweifellos riechen könne.

Nördlich von Swakopmund schließt die Skelettküste an, rauh und wild mit dem Übergang der Namib ins Meer. Hier dörren Walfisch- und Menschenskelette zwischen Schiffswracks unter einer wuchtigen Sonne. Mehr Bewegung gibt es im Etosha Nationalpark, wo man Zebras, Gnus und anderes Löwenfutter in freier Wildbahn beobachten kann. Hier herrscht absolutes Schieß- und Eingreifverbot, nur der Präsident kommt manchmal jagen. Lucia Schörghofer, ganz Rangerin, runzelt die Stirn, wenn sie an die seltsamen Sitten denkt, die in ihrem Land manchmal herrschen. „Einige Menschen ziehen es vor, den mitgekochten Stein im Perlhuhneintopf zu essen, weil das rasante Perlhuhn als zäh und beinahe ungenießbar gilt.“ In der Wüste kann man eben schwer Fett ansetzen.