London – Lifestyle Shoreditch

"Die Presse" 2008

Entweder du siehst es – oder nicht

 

Das Londoner East End bietet eine Menge: Nicht nur Theatergeschichte und Jack the Ripper. Auch den größten vorstellbaren Bangladesh-Supermarkt. Und sogar Running T-Shirts!

 

Das erste Theater Londons trug den einfachen und logischen Namen „The Theatre“. Es lag außerhalb der City, im Vorort Shoreditch. Schauspiel, das bedeutete im 16. Jahrhundert Großbritanniens eine riskante Abendgestaltung – dem Medium konnte man keinesfalls vorwerfen, elitär zu sein. Im „The Theatre“, wo Shakespeares „Romeo und Julia“ erstaufgeführt wurde, herrschten raue Sitten. Schon der Name des Viertels, Shoreditch, weist auf „sewer“, Kanal. In den engen Gassen des East End, wo die unvornehmen Handwerke ihren Sitz hatten – unter anderem das Klebstoffgewerbe, also Möbelbau und Schuhmacherei – lärmte und stank es. Ähnlicher Trubel herrschte im Theatersaal: das Vorstadtpublikum wollte unterhalten werden und sich miteinander unterhalten. Oft kam es zu Krawallen oder Angriffen auf die Schauspieler, von denen einer William Shakespeare persönlich war. Überbelegung trug ebenso zur aufgeheizten Stimmung von „The Theatre“ bei wie das in Strömen fließende Billigbier, das am Eingang illegal verkauft wurde.

Bis vor kurzem wusste niemand ganz genau, wo „The Theatre“ stand – doch im Sommer 2008 grub man seine archäologischen Fundamente aus. Das war einem Zufall zu verdanken, stieß man doch gerade beim Bau eines Theaterhauses des 21. Jahrhunderts, nämlich jenem der „Tower Theatre Company“, auf die Relikte der Shakespeare-Vergangenheit. Im August gab das Museum of London bekannt, dass die Überreste im neuen Gebäude kenntlich gemacht und erhalten werden sollen – die ersten und gleichzeitig letzten Steine der historischen Spielstätte, die 1599 nach einem Streit mit dem Hausbesitzer über Nacht abgerissen worden war.

 

Shoreditch, in Fußmarschnähe von Liverpool Street, einst ungezügelt und wild, ist längst das Viertel der hippen Künstler. Seit den Sechziger Jahren leben die britischen Ikonen der Modernen Kunst, Gilbert und George, in der schicken Neighbourhood und betrachten mit den stoischen und meist synchronen Kopfbewegungen anerkannter Künstlerpaare die Aufwertung des citynahen Bezirks. Von der Galerie White Cube, einem Backsteingebäude mit weißem Würfelaufbau, ging die Bewegung der Young British Artists aus. YBA-Star Damien Hirst stellte hier schon früh Werke wie seinen Tigerhai in Formaldehyd aus, ebenso wie Tracy Emin ihr später beim Momart-Brand zerstörtes Zelt mit dem Titel „Everyone I have ever slept with“. 2007 präsentierte Hirst in der White Cube seinen berühmten Platin-Totenschädel: die teuerste Arbeit moderner Kunst ihrer Zeit.

Die schicksten Lokale und Clubs in der Gegend sind das dreistöckige „333“ in der Old Street, das gerne halb taub machende Konzerte auf engstem Raum veranstaltet, und die Themenbar „The Elbow Room“. Sie wirbt in ihrem Namen mit dem ausreichenden Platz für einen Billardstoß, dies im angenehmem Gegensatz zu den restlichen Pubs in der Zone, die abends mit dem Adjektiv „packed“ hervorragend beschrieben sind.

Das war immer so. Auf die Epoche der Hugenotten, politisch verfolgte Einwanderer aus Frankreich, folgte die ärmliche jüdisch-irische Ära des 19. Jahrhunderts, in der das East End zum Arbeiterbezirk wurde – und Jack the Ripper trieb hier sein Unwesen. Obwohl in Shoreditch die Rothschilds die ersten Sozialwohnungen bauten, blieb die Lage prekär. In der Christ Church Hall hielt Charles Dickens Vorlesungen und Eleanor Marx, die jüngste Tochter von Karl, scharte Arbeiterinnen um sich und gründete ihre Gewerkschaftsbewegung.

Danach erholte sich die Gegend lange nicht. Wer vor zwanzig Jahren den Ex-Stadtrand besuchte, der nun fast in der Mitte lag, fand verfallende Bausubstanz aus dem letzten drei Jahrhunderten, Armut, Dreck und Gestank. Die Immobilien waren billig, und die Käufer verdienten sich eine goldene Nase. Einer von ihnen dachte nicht im geringsten an Geld und schuf trotzdem etwas Denkwürdiges: Dennis Severs. Der Amerikaner hatte sich 1979 ein Hugenottenhaus angeschafft und es so eingerichtet, wie die Bewohner vom 18. bis zum 19. Jahrhundert gelebt haben mochten – unter anderem ohne Elektrizität. Bis zu seinem Tod 1999 lebte er persönlich in diesem Gebilde, das kein Museum sein soll, sondern eine „Kapsel der Vergangenheit“. Hausmotto des Nonkonformisten: „You either see it or you don´t.“ Hier und in den Häusern rundum sind viele Fenster zugemauert: Erinnerung an die Zeiten der „window tax“ vor dreihundert Jahren, als die Stadt die Steuerabgaben der Hausbesitzer nach der Anzahl der Fenster bemaß. Das führte zu einem Boom des Zumauerns und zum Schlagwort der „daylight robbery“.

 

In London heißt es gerne, eine Gegend sei endgültig und unwiderruflich aufgewertet, wenn Waitrose einzieht, der Supermarkt für jene, die gerne gutes Geld ausgeben. Im Gefolge von Waitrose kommt dann die Kette Nando´s mit ihren Hühnchen, eine Art Kentucky Fried Chicken für den Mittelstand. In Shoreditch verhält es sich ähnlich, wenn auch umgekehrt: Waitrose wird demnächst kommen, Nando´s ist bereits da. Am definitiven Schritt in die Zukunft arbeitet Shoreditch noch – momentan sind Member´s Clubs wie der „Ivy Club“ in der West Street im Stadtzentrum angesagt, und die ehemalige Peripherie möchte nachziehen.

Was im alten Viertel um die Brick Lane längst vorhanden ist, durch zweisprachige Straßenschilder untermauert, ist Little Bangladesh. Im Schatten der ehrwürdigen Truman Brauerei reiht sich ein Tandoori-Restaurant an das nächste, am Nordende der Straße befinden sich erstaunliche Bagel-Shops mit Sägespänen auf dem Boden, in denen die Salt Beef Bagels vier bis fünf Zentimeter dicke Fleischscheiben vorweisen. Der bengalischste Supermarkt der Stadt, Banglacity, bietet alle denkbaren indischen Gewürze, alle denkbaren asiatischen Früchte und Spezialitäten wie Pistazien mit Honig im Glas. Eine Parallelstraße weiter liegt der Old Spitalfields Markt: britische Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg; Zeitungen jedes beliebigen Datums der letzten hundert Jahre; original Singles von den Beatles. Zu den Lokalentdeckungen der neuen Koch-Generation zählt das „Canteen“ im Marktgebäude, das sich an Gerichte wie Nieren auf Toast wagt: der anschließende Obst- und Gemüsemarkt hat sich auf biologische Erzeugnisse spezialisiert

 

„I don´t really like shopping”, ist eines der Motti von Joe Corre, dem 41-jährigen Sohn von Vivienne Westwood und Malcolm McLaren, bekannt als Mitgründer von „Agent Provocateur”. Als Remedium erfand er den Herren-Shop „A Child of the Jago“, der sich damit brüstet, „Original-Kleidung für Terroristen“ anzubieten. Der chronisch slicke Corre ist bekannt für Pseudo-Punk-Provokationen aus der Position des Stärksten – und stößt erstaunlicherweise immer noch auf erbitterte konservative Gegner. Sein vielfältiger, origineller Laden wäre die ideale Auftankstelle für Menschen mit Geld und Sinn für Kuriositäten, Dekadenz und angewandtes britisches Bobotum. Geruch, Stil und Konzept muss einem da gefallen.

Weniger elitär-terroristisches Shopping gibt es im „Laden Showroom“, wo über fünfzig unabhängige, junge Modeschöpfer ausstellen und Pete Doherty ebenso Kunde sein soll wie Victroia Beckham – irgendwo müssen ja auch die einkaufen. Bodenständiger und cooler sind hingegen die Kleinboutiquen am Dray Walk nebenan. Gegenüber eröffnete 2007 der größte East Ender CD-Laden von Rough Trade, dem Independent-Label, wo Stiff Little Fingers oder Cabaret Volatire begannen. Der Rough Trade East betreibt ein eigenes Café und ist von Gemütlichkeit und Übersicht der Idealfall eines Tonträger-Geschäfts. Am Platz um die Ecke befindet sich hingegen der Idealfall des asiatischen Würstelstands: zwei Damen betreiben einen mit bunten Graffiti bemalten „Thai and Leo Cuisine“-Wagen. Das alles in Sichtweite eines musealen Original Doppeldeckers der Routemaster-Generation und dem wohl erstaunlichsten T-Shirt-Shop der Gegend, dem „Illustrated People“. Das ist eine Art Running-T-Shirt-Laden, in dem Shirts zu erschwinglichen Preisen hoch oben karussellartig im Kreis rasen und Lust aufs Pflücken machen. Die Kaufreihenfolge: zuerst Thai-Curry, dann T-Shirt, denn die Farben der Saison sind hell.

 

Veranstalter:

Rail Tours Austria, www.railtours.at, Städtereisen Zug und Flug. Lifestyle-Variante inklusive Brüssel: London-Hinflug kombinierbar mit Eurostar-Fahrt nach Brüssel und Rückflug von Brüssel.

 

Kunst, Museen, Besuchsorte:

White Cube, 48 Hoxton Square, einflussreichste britische Galerie des letzten Jahrzehnts, Stammhaus von vielen der „Young British Artists“.

Dennis Severs' House, 18 Folgate Street, www.dennissevershouse.co.uk, an Montagen besuchbar. Strikte Hausordnung, keine Familien- und Kinderfreundlichkeit, kein Museum!

Geffrye Museum, Kingsland Road; es zeigt Möbel, Textilien und Bilder – die Quintessenz der englischen Innenarchitektur der Mittelschicht in den letzten vier Jahrhunderten.

Whitechapel Art Gallery, Angel Alley Entrance, 80-82 Whitechapel High Street; Galerie für Moderne Kunst seit über 100 Jahren

 

 

Shopping

The Laden Showroom, 103 Brick Lane, junge Designer, www.laden.co.uk, im Internet sind solche Teile unter www.asos.com bestellbar

Illustrated People, Shop 13 Elys Yard / The Truman Brewery, an der Hanbury Street, T-Shirts, www.illustratedpeople.com

A Child of the Jago, Original Terrorist Clothing and Artefacts, 10 Great Eastern Street.

Rough Trade East, CD-Laden des gleichnamigen Labels, „Dray Walk“, Old Truman Brewery, 91 Brick Lane, www.roughtrade.com

Eastside Books, 166 Brick Lane, kleine, freundliche Buchhandlung mit East London-Titeln.

Banglacity, Bangladesh Supermarkt, 86 Brick Lane, www.banglacity.com

 

 

Restaurants, Bars, Clubs:

Canteen, 2 Crispin Place, auf dem Old Spitalfield Market, moderne britische Küche, www.canteen.co.uk

Home Bar Lounge Kitchen, 100-106 Leonard Street, schicke Warenhaus-Umgebung, www.homebar.co.uk

The Elbow Room Shoreditch, Pool Lounge and Bar, 97-113 Curtain Road, ganzheitliches amerikanisches Bar-Konzept mit Billard an sieben Tischen, www.theelbowroom.co.uk

333 Old Street, unkomplizierter Nachtclub, DJ´s, viel Retro, www.333mother.com

Stadtführungen und private Touren auf Deutsch:

www.londontoursaufdeutsch.com