Lissabon

"Die Presse" 2007

Apfelstrudel in der Alfama

Lissabon boomt. Früher kannte man die westlichste Hauptstadt Europas durch Madredeus, José Saramago oder die Weltschmerzhymnen der Saudade – jenem spezifischen Sehnsuchtsbegriff, von dem die Portugiesen behaupten, man könne ihn auf keine andere Sprache übersetzen. Seit Ende der Neunziger floriert eine kosmopolitische Szene, und kaum ein Bericht über das Nachtleben lässt die Klassiker aus: das legendär-elitäre „Frágil“, das moderne „Lux“ und die Riesendiskothek „Alcântara Mar“. Gerne wird auch auf die traurig-schönen Fadoklänge aus den Kneipen des Bairro Alto verwiesen, deren Authentizität im Lauf der Jahrzehnte allerdings stark gelitten hat.

Wer im Zentrum Lissabons nach Fado sucht, ist meist am besten mit einer CD aus dem Mediagiganten „FNAC“ bedient und kann sich nach diesem Kauf entspannt den Geheimtipps der Abend- und Nachtszene widmen. Zum Beispiel dem etwas grotesken Türsteher-Klub „Pavilhão Chinês“ (ist aber weder Pavillon noch chinesisch!) am Rande des Bairro Alto, museumsartig vollgestopft mit Kramuri, von Flugzeugmodellen über Tonfiguren und Zinnsoldaten bis zu Matroschkas. Hier treffen sich schnurrbärtige Journalisten, die aussehen, als hätten sie die Revolution am 25. April 1974 höchstpersönlich entfacht, und hier diagnostizierte der Dichter José Cardoso Pires angesichts der geckenhaften Billardspezialisten erstmals den Typus des „Spät-Yuppies“.

Solche Besuchertypen meiden traditionell die Gegenden, die im Zentrum touristischer Aufmerksamkeit stehen. Das Chiado, 1988 abgebranntes Innenstadtviertel, ist zwar zur Jahrtausendwende neu errichtet worden, doch mehr als eine schicke Meile für Großkonzerne und der spektakulärste Metrozugang der Stadt, ein Rolltreppenparadies, kam dabei nicht heraus. Dafür macht nun die Gegend neben dem Chiado von sich reden: knapp abseits der Menschenströme füllt sich der Süden der Stadt neuerdings mit Leben, dank einer jungen Generation, die im Bairro Alto, in Santa Catarina und auch in der Alfama eigene Projekte auf die Beine stellt – ein Boom, an dem ein paar junge Österreicherinnen nicht ganz unbeteiligt sind.

Eine Voralbergerin steht exemplarisch dafür: Sabine Pawlik, 35, lebt in der Stadt am Tejo – früher Vierteleigentümerin, leitet sie nun den bekanntesten In-Friseur Lissabons, den WIP-Hairport. „Am Anfang waren wir ein verrückter Haufen von Ausländern, die Kleider verkauft und Haare geschnitten haben. Jetzt wollen wir ein Friseur sein, der Typen kreiert.“ Einst hat sie Toni Polster die Haare geschnitten, nahm Auszeit für ein Studium in Wien, wo sie auch die Meisterprüfung gemacht hatte, ging nach London und vor fünf Jahren landete sie in Lissabon: „Ich möchte kein Modefriseur sein“, erklärt sie ihre Philosophie der individuellen Beratung, „ich will rausfinden, was jemandem am besten passt, und das soll wiederum in unsere Zeit passen. Unsere Kunden sind alle, die was aus sich machen wollen und unserem Fachwissen vertrauen. Wir haben sogar zwei 70jährige Pensionisten, die sich ganz toll verändern. Sie bekommt schwarze dicke Strähnen in die weißen Haare, ihr Mann lässt sich ein Muster in den Nacken rasieren ...“

Während der dottergelbe Elevador da Bica den steilen Anstieg vor der Tür des WIP hinauf- und hinunterrattert, muss Pawlik nach allen Seiten grüßen. Das WIP ist mehr als nur ein Friseur – ein Kommunikationszentrum, ein Internetcafé, oder einfach ein Ort, wo die internationale Community abhängt; Besucher sind jederzeit willkommen. „Wir werden viel gefragt. Wohin man ausgeht, essen geht, wo man einen Pianospieler herkriegt für eine Audition. Wir haben auch Karteikästchen mit Mietwohnungen und Zimmern.“ Der internationale Austausch ist ihr wichtig, daher hat Sabine Pawlik das Projekt „Cabeleireiras sem fronteiras“ („Friseurinnen ohne Grenzen“) gegründet: „Meine spanische Kollegin Silvia schneidet gerade drei Wochen bei Fortschnitt in Wien, ein Friseur, den ich sehr schätze. Als Austausch haben wir Liane bei uns. So ein Tausch funktioniert aber nur, wenn die Leute das gleiche Niveau haben. Ich mag solche Projekte. Wozu sind wir denn bei der EU?“

Sabine Pawlik lobt ihre portugiesischen Kunden, die zwar manchmal etwas unpünktlich zum Schneidetermin kommen, aber höchstens über das Rauch- und Handyverbot im WIP jammern: „Sie sind prinzipiell recht offen für Veränderungen.“ Österreicher sind anders? „Deutsche und Österreicher sind oft ein bisschen langweilig mit ihren Haaren. Viele glauben, weil sie dünnes Haar haben, kann man wenig machen. Aber das stimmt nicht.“ In jedem Fall sind psychologische Fähigkeiten gefragt, und Fingerspitzengefühl. „Mann muss herausfiltern, ob ein Kindheitstrauma vorhanden ist. Vielleicht ist eine Kundin immer gehänselt worden wegen ihren abstehenden Ohren, deshalb will sie keinen Kurzhaarschnitt. Oder die Strinfransen haben ausgesehen wie von Prinz Eisenherz, weil die Eltern Hand angelegt haben. Wenn man diese Dinge aus der Welt schafft, beziehungsweise bewusst macht, dann öffnet man ein Tor – normalerweise.“

Rund um das WIP ist einiges los, nicht nur das Rattern des Elevador, der hundertjährigen Schienenbahn, die die ehemalige Prostituiertengegend Cais do Sodré mit dem Vergnügungsviertel Bairro Alto verbindet. Diesen Sommer hat nebenan das „Bica-me“ neu eröffnet, ein Feinkostladen mit Gourmetprodukten und Wein aus Portugals Regionen. An kleinen Tischen wird Espresso (die starke schwarze Lissaboner „Bica“) serviert, frische Obst- und Gemüsesäfte, und die beste Tomatensuppe der Stadt.

Immer mehr junge Lokale variieren die traditionelle portugiesische Küche mit ihren bäuerlichen Wurzeln und bringen Internationales, neben Bacalhau (Stockfisch), Sopa Alentejana (Suppe mit Ei und Knoblauch) und Pastéis de Nata (die süßen Pastels mit Karamelüberzug) gibt es nun auch Orte für Gazpacho, Cous-cous und Bagels: zum Beispiel tiefer unten, am Aussichtspunkt Santa Catarinas, dem „Adamastor“. Dort ist das „Noobai“, von dessen Terrasse aus man den Sonnenuntergang und die Ponte 25 de Abril betrachtet, vielleicht auch zu Klängen von Gitarren, denn neben den allgegenwärtigen Joints fehlen Instrumente nie. Und wenn man Glück hat, spielt einem zu später Stunde ein betrunkener junger Wohlstandspunk etwas verschämt den „echten“ Fado vor, ironisch gebrochen, aber immer zutiefst ernst.

Was bildende Kunst betrifft, hat man nicht weit zum Atelier „RE.AL“, wo Künstler wie Claudia Dias und Tiago Guedes ihre Ideen entwickeln und präsentieren: ein Raum für interdisziplinäre Performances. Gleichfalls beliebt ist das ZDB („Zé dos Bois“), ein autonomes Kulturzentrum im Bairro Alto, eine Art Einstiegsinstitution für junge Künstler, das Ausstellungen veranstaltet, aber auch Konzerte. Die ZDB-Macher haben bereits einige verlassene Gebäude besetzt und gerettet und verfolgen unter anderem das Ziel, neu aufkommende Kunstformen vor dem Aufkauf durch Institutionen zu schützen“.

Sabine Pawlik müsste die Mikrogegend um den Elevador da Bica kaum verlassen, um aus dem Vollen zu schöpfen, aber manchmal scheut sie den Weg durch die Unterstadt in das andere mittelalterliche Viertel am Tejo nicht: die Alfama mit ihren verwinkelten Straßen und Freiluftstiegen, mit dem Bairro Alto durch die berühmte Straßenbahn 28 verbunden.

Man kann sich schwer vorstellen, dass eine Frohnatur wie Pawlik stark unter Heimweh leidet, aber ihr macht es schon Spaß, gelegentlich beim einzigen “Österreicher“ der Stadt vorbeizuschauen. Nur ein paar Schritte von der Kathedrale Sé haben zwei ihrer Kundinnen, Catherine Bauer, 31 aus Wien und Barbara Ostwalt, 30 aus Salzburg, ihr Café eröffnet: das „Pois Café“, Untertitel „Café Austríaco“. Auf einer gemeinsamen Reise nach Südamerika hatten die beiden, die früher mit Hannes Jagerhofer und Do&Co zusammenarbeiteten, ihre Geschäftsidee. Das Erdgeschossgewölbe mit Flair ähnelt den portugiesischen Bicaläden überhaupt nicht: anstelle des einheitlich silbernen Tresens eine offene Küche hinter der Vitrine – und viel Bewegung.

Das „Pois“ könnte am Prenzlauer Berg stehen: gemütliche Sofagarnituren, Designertische, ein Sammelsurium von Sesseln und Stühlen. Natürlich ist es der einzige Ort in Lissabon, der Apfelstrudel im Original anbietet. Die persönliche Fusionküche von Bauer und Ostwalt macht das „Pois“ so besonders – und vielleicht auch sein rätselhafter Name? Anders als im Falle der Saudade ist das allgegenwärtige Wort „Pois“ in seiner Vielfalt nämlich tatsächlich unübersetzbar – es kann Zustimmung signalisieren, in der Variante „pois não“ aber auch radikale Ablehnung. Es bekundet vitales Interesse oder drückt Desinteresse aus. Es ist vielfältig, bunt und individuell wie das nach ihm benannte Lokal. „Pois“ war wohl auch eines der ersten, einprägsamsten Worte, das die Österreicherinnen in der Sprachsuppe, die dem Ungeübten und Interessierten in Lissabon zunächst entgegenzuschwappen scheint, identifizierten.

Bauer und Ostwalt haben einen wenig überraschenden Spießrutenlauf durch die portugiesische Bürokratie hinter sich, aber im Mai 2005 war es so weit, sie konnten ihr Lokal eröffnen. Das Pois bietet neben Brunch, Jause und Mittagessen monatlich wechselnde Ausstellungen, eine Tauschbörse für Bücher und Reiseführer sowie einen Infopoint. Von den Erasmusstudenten über die einheimischen Familien aus der Alfama bis zu Touristen, die einen Tipp bekommen haben, sind alle im Pois anzutreffen. Ein paar Schritte weiter beginnt die Welt der niedrigen Haustüren, der nachdenklichen Katzen auf den Fensterbrettern, der hellbauen Azulejo-Kacheln und der enormen Unterhosen auf Schnüren quer über der Gasse.

Von hier steigt man wenige Minuten zum Castelo de São Jorge auf, der alten Maurenburg, die einen Blick über die gesamte Altstadt bietet. Deutlich die Trennlinie: das Bairro Alto und die Alfama sind getrennt durch die Baixa, die Unterstadt mit ihren rechtwinkeligen Straßenzügen, die vom Marquês de Pombal nach dem verheerenden Erdbeben von 1755 wieder aufgebaut wurde. An der „Costa do Castelo”, wörtlich also dem “Rücken der Burg”, einer Umgehungsstraße in Kreisform, findet sich ein Kulturzentrum der besonderen Art: das „Chapitô“ mit seinen aktiven Kulturrevolutionären, die gerne Clownnasen tragen und doch sehr ernsthaft für soziales Engagement stehen. Abgesehen von seinem Kulturprojekt unterhält das „Chapitô“ Lissabons einzige Zirkusschule – und ein hervorragendes Restaurant.

Rund ums Chapitô werden die Straßen steil. Hier und da läuft sogar noch einer der beigen Gassenhunde herum, die noch in den Achtzigern das Terrain beherrscht haben. Sabine Pawlik, die Friseurin, gerät auch bei großen Steigungen nicht so rasch außer Atem. „Jetzt ist echt viel los. Wir haben einen Haarschneidplatz für Kinder eröffnet, momentan dreht sich alles um diesen Hairport Mini im Fermento. Aber das läuft, und ich fange langsam wieder an zu leben.“ In der Alfama, in Santa Caterina und im Bairro Alto kann man das ausgesprochen gut.

 

“WIP-Hairport“, Friseur, Rua da Bica Duarte Belo 47-49, P-1200-054 Lisboa, Mo und Sa 13-21, Di-Fr 11-22, www.hairport.info, neues WIP-Projekt: Hairport-Mini, Haareschneiden für die Kleinen im Kindergeschäft „Fermento“, Rua do Século 13,  http://fermentoshop.blogspot.com/, Fr und Sa, 11-19.30.

„Pois, Café“, o Café Austríaco, Rua São João da Praça 93-95, Alfama, Lisboa, Di-So 11-20.

“Bica-me”, Mercearia, Café, Rua da Bica Duarte Belo 51, Santa Catarina, Lisboa, täglich 12-22.

“Noobai Café”, am Miradouro do Adamastor, Santa Catarina, Lisboa, täglich 12-24, mit “Cantinho Noobinho”, Kinderbereich, täglich 12-24, www.noobaicafe.com.

Galeria “Zé dos Bois” (ZDB), Rua da Barroca 59, Bairro Alto, Lisboa, www.zedosbois.org.

“RE.AL”, interdisziplinärer Kunstraum, Rua Poço dos Negros 55, Santa Catarina, Lisboa, Büro Mo-Fr 10-19, www.re-al.org

“Chapitô”, Café und Restaurant, Kulturprojekt; Costa do Castelo, 1 / 7, Alfama, Lisboa; www.chapito.org

„Pavilhão Chinês“, Cocktail-Bar, Rua Dom Pedro V. 89-91, Bairro Alto, Lisboa, Mo-Sa 18-2, So 21-2.