Kuba

"Die Presse" 2008

Wer putzt die Lennonbrille?

 

In Havanna ist das Tanzen eine normale Fortbewegungsart: Notizen aus dem größten Verfallsmuseum der Welt

 

Havanna strahlt hell gleißend, doch wer näher hinsieht, erkennt das Strahlen einer zahnlosen, alten Frau. Trotz eines Revitalisierungsprogramms ist die Innenstadt nur noch eine bröckelnde Ruine. Viele der Häuser aus der Kolonialzeit, oft fünf, sieben oder zehn Stockwerke hoch, sind in einigen Ebenen schon völlig zerfallen, während in anderen Hausteilen trocknende Wäsche aus den Fenstern hängt – wohl ein Symbolbild für Kuba am Beginn des 21. Jahrhunderts. Unten, in den Straßen dieses größten Verfallsmuseums der Welt, finden sich die Musikgruppen zusammen, alle klingen ein bisschen wie aus dem „Buena Vista Social Club“, sanft, melodiös swingend, mit punktuellen Misstönen. Auf sehr natürliche Art gehört dieses Swingen, Singen und Klagen alter Männer zum kubanischen Leben, und gelegentlich findet sich jemand, der dazu tanzt. Niemand hält das für seltsam. In Havanna ist Tanzen eine normale Fortbewegungsart.

 

Wie sieht ein Land aus, das nicht durch die Maschinerie des neoliberalen Kapitalismus gedreht wurde, das fast fünfzig Jahren einen eigensinnigen Weg gegangen ist? Verfallen, angeschlagen, aber dennoch nirgends völlig kaputt. „Selbst in der teilweisen Verwesung phosphoresziert die Stadt wie ein überdimensionaler Feuersalamander“, schreibt Gerhard Drekonja-Kornat im Vorwort seiner Bestandsaufnahem „Havanna“ (2007), in der er Autorinnen und Autoren die Gegenwart einfangen lässt – zum Thema „Wie lange noch“? Selbige Frage stellt man sich angesichts der Buick- und Chevy-Oldtimer, die seit fünfzig Jahren ihre Kreise durch Kuba ziehen, von mindestens vier findigen Mechanikergenerationen gepflegt, ausgehöhlt, in Bewegung gehalten und in ihrer verbeulten Kompaktheit zum Denkmal erhoben.

So wie das Hotel „Habana Libre“: Denn auch das ist – in viel höherem Maße als der gigantisch kahle Revolutionsplatz einige Kilometer weiter – das Symbol des kubanischen Sonderwegs. Hier, im ehemaligen Hilton, richtete Fidel Castro im Jänner 1959 nach seinem gelungenen Coup die Politzentrale ein. In diesem Moment endete das Batista-Regime ebenso wie die wilde, fast gesetzlose und mafiaregierte Glücksspiel-Epoche. Der herbe Charme des Umbruchs weht noch heute durch das Gebäude, an den Wänden hängen Revolutionsfotos. Interimistisch regierte Fidel Castro vom 24. Stock des auf einer Anhöhe stehenden Hauses aus über das Land. Das Panoramacafé bietet atemberaubende Blicke über den Stadtteil Vedado und vor allem auf den Küstenboulevard Malecón, der wie ein gelber Stich Häusermeer von Karibik trennt.

 

Dahinter beginnt „Habana Vieja“, die Altstadt – der glanzvolle Prado, offiziell „Paseo de Martí“, mit dem erhöhten Gehweg in der Mitte, das majestätische Kapitolgebäude, das sein US-Vorbild bei weitem übertrifft, die hübsch unsymmetrische Kathedrale, und auch hier wieder überall Musiker und Leichtigkeit, in die sich Trauer mischt. Dazwischen Kindergärten, Parteisektionen, offene Innenhöfe und Bankhäuser, die wirken, als habe man ein Hemd bis zum Kragen geschlossen. Havanna ist anders, nein, völlig anders: eine Stadt mit verrückten Überraschungen an jeder Ecke. Die kleinen Ständchen mit Ferkelfleischsandwichs sind noch das normalste. Der Fuhrpark der alten Dampf- und E-Lokomotiven neben dem Bahnhof schon absurder. Oder die Statue John Lennons in einem Park in Vedado, wo der vom Revolutionsführer verehrte Anti-Revolutionssänger einsam mit fettigen Haaren auf einer Bank sitzt. Lässt sich jemand neben Lennon nieder (Gravierung zu seinen Füßen: „Imagine all the people living life in peace“ auf spanisch), kommt sogleich der Brillenträger, ein verschlossener, wortkarger Staatsdiener. Der Brillenträger setzt der Lennon-Statue immer die charakteristische dünnrandige Hippie-Brille auf, wenn Besucher sie fotografieren wollen: „Man muss aufpassen. Sie ist schon fünf oder sechs Mal gestohlen worden.“ Verlässt man den Ort, steckt der Brillenträger die Lennon-Brille wieder in seine Brusttasche – aber vorher putzt er sie noch.

 

Die Nekropole Cristóbal Colón ist einer der spektakulärsten Friedhöfe Lateinamerikas, und vielleicht der einzige, den man mit dem Auto befahren kann. Neben den Revolutionsmonumenten herrscht hier auf 56 Hektar eine steinerne Idiosynkrasie der Kulturen. Der Schriftsteller Alejo Carpentier liegt hier ebenso wie Kubas einziger Schach-Weltmeister José Raul Capablanca, dazu noch hinter viel Granit und Marmor die Gruften von Generälen, Märtyrer, Parteigranden und Revolutionären – und die berühmteste Frau, „La Milagrosa“, mit bürgerlichem Namen Amelia Goyri, die 1901 bei der Geburt ihres Kindes starb und später unverwest exhumiert wurde, wobei das Baby, zu ihren Füßen begraben, nun in ihren Armen lag. Die Kubaner lieben diese zutiefst unsozialistische Fabel bis heute und häufen frische Blumen auf das Wundergrab.

Noch vor kurzem hieß es, Kubaner würden alles und sich selbst verkaufen, aber seit wieder Geld ins Land kommt (das Wirtschaftwachstum 2006 betrug 5 Prozent, Venezuela investiert, aber auch China und der Iran), raunen einem nur noch wenige unverwüstliche Zigarrenverkäufer ihre Angebote ins Ohr. Der Weg durch die Havannas Straßen ist beinahe frei von Prostitution, was die Spazierqualität stark erhöht. Das mag in den Touristengegenden um Varadero, 130 Kilometer östlich der Hauptstadt anders sein, aber wer muss dort hin? Die Karibikstrände beginnen östlich der Vorstadt Cojimar, sind unaufdringlich, hellsandig und in erster Linie einfach schön. In den kleinen Orten um Santa Cruz del Norte werden Abends Fische wie der „pez sierra“, der Sägefisch, gegrillt, und dazu gibt es das gänzlich revolutionäre Bucanero-Bier.

 

 

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