Iran

"Die Presse" 2007

Land der Ironiker

 

Teheran, Dezember 2006, Motahari Avenue. Der Lebensmittelhändler, bei dem ich ein frisches Stück Kokosnuss kaufe, steckt mir als Geschenk eine Dattel in den Mund. Wir freuen uns beide. Ich spaziere durch das nördliche Teheran, eine moderne Großstadt. Breite Boulevards, hin und wieder Bäume und Gärten. Das Bild des rückständigen, verzopften Iran, Sanktionen- und Bombardierungskandidat, kann man getrost vergessen. Freundliche, urbane Menschen bevölkern die Warenhäuser, lassen sich durch die Straßen treiben, tauchen durch den wilden Verkehr. Regelmäßig wird Teheran als uncharmante Metropole beschimpft, weil der orientalische Flair fehlt, und die Touristenattraktionen dünn gesät sind. Wäre da nicht die keine Ausnahme duldende Kopftuchpflicht und Bekleidungsvorschrift für Frauen – man könnte sich in einem EU-Land wähnen.

Die Zwangsbedeckung des weiblichen Kopfes in der Öffentlichkeit ist der unerfreulichste äußerliche Ausdruck des iranischen Regimes. An der Befestigung dieses Kopftuchs ist die politisch-religiöse Einstellung der Einzelnen ablesbar. Eng, knapp, brav: das bedeutet angepasst. Viele junge Frauen tragen das Kopftuch jedoch wie einen modischen Zufall, lassen die Haare bis zur Mitte des Scheitels offen. So entsteht eine Problemzone, die jederzeit im Sinn der Vorschrift korrigierbar ist. Das ist nötig. Eine Frau, die sich in der Öffentlichkeit nicht den islamischen Vorschriften unterwirft, begibt sich in Lebensgefahr.

 

Unter den Bedeckungen wird erkennbar, was die Frauen tragen, und was sie gerne tragen würden. Ein seltsamer Kontrast zu den Fotos von persischen Girls aus den Sechziger Jahren, mit Blumenhosen und Bubiköpfen vom Typ Mick-Jagger-Groupie. „Wir mussten uns ändern, ja“, erklärt mir ein Mann namens Mohammed an einem Fast-Food-Stand. „Aber die Frauen umgehen die Gebote ohnehin. So entsteht aus dem Zwang eine Mode. Wenn es von offizieller Seite her heißt, die Kleidung muss lang sein, macht die Mode sie kürzer, wenn sie kürzer werden soll, wird die Mode sie verlängern.“

„Widersprüchlichkeit“ zu konstatieren: verführerisches Klischee für jeden Reisenden. Doch schon ein zehnminütiger Spaziergang über die Vali-ye-Asr Avenue erweckt zutiefst gegensätzliche Eindrücke. Denn wenig im Stadtbild deutet darauf hin, dass hier nicht freie Menschen durch die Straßen eines freien Staates spazieren. Die Propaganda ist heute reduziert. Dennoch lassen Plakate und Wandgemälde an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Mutter und die Maschinenpistole: „My children I do love; but martyrdom i love more.“ Das beschwört ein anderes Frauenbild herauf als jenes der vom Regime totgeschwiegenen Friedensnobelpreisträgerin. „Es gibt keinen Staat im Nahen Osten, wo Frauen so viel zu sagen haben wie im Iran“, bestätigt Mohammed, „hier läuft nichts ohne Frauen, auch in höheren Positionen. Zumindest in der Zivilgesellschaft.“

 

Iranische Frauen lenken Autos, stehen hinter den Verkaufsschaltern, nehmen selbstbewusst gesellschaftliche Positionen ein. Die grotesken Separations-Regeln im Geschlechterumgang – so dürfen Ärztinnen in staatlichen Spitälern nicht mit Ärzten sprechen, außer es handelt sich um einen Notfall – treiben trotzdem ihre Blüten. Doch Gewohnheit macht blind und mürbe. Die tägliche Diskriminierung wird selten als solche empfunden. Aber gerade das normierte Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zeigt die Abhängigkeit der Frauen von einem durch Männer konstruierten System. Die Männer kleiden sich, wie sie wollen. Im Norden Teherans lehnen sie studentisch lässig, rauchend, an Häuserecken. Einige erinnern mit ihren Ray Bans an Geogre Clooney, andere stecken in Anzügen und machen auf Karl-Heinz-Grasser. Körperhaltung und Auftreten signalisieren, dass die Freiheit des 21. Jahrhunderts für sie sehr wohl gilt.

„Women only“: gelbe Banderolen auf dem ersten und letzten Waggon jeder Teheraner Metrogarnitur. Freilich mischen sich auch in den mittleren Waggons Frauen in die Männerphalanx, im Verhältnis 1:20. In den Bussen wird die Separation noch augenfälliger. Frauen sitzen im hinteren Bereich, Männer vorne. Oft stehen Frauen, weil in ihrem Bereich alle Plätze besetzt sind, während der Männerbereich halb leer ist. Da stellt sich eine Frage: Was sind das für Männer, die beschließen, dass man die Frauen vor ihnen schützen muss? Entspringen solche Regeln etwa den unterdrückten Wünschen und Begierden jener, die sie aufstellen?

 

Tee versus Kaffee, Tradition versus Moderne: Auf dem Imam-Khomeini-Platz schenken Männer mit großen Thermoskannen Chai in Pappbecher. Daneben teilen zwei Studenten in Nescafé-Dress Probepäckchen aus. Teherans Süden liegt unter einer Smogschicht. Das Wasser aus dem Elburs-Gebirge, das die abschüssigen Straßen in Flussrinnen durchfließt, erreicht die armen Viertel der 14-Millionen-Stadt immer nur dreckig und ölig. Zweieinhalb Millionen Menschen leben in slumähnlichen Siedlungen, wo teilweise Faustrecht herrscht, erzählt der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan, regelmäßiger Mitarbeiter der „Frankfurter Allgemeine“. Hier rekrutiert das Regime die Revolutionspolizei und Störtrupps, „Zivile“ genannt, die Demonstrationen im „dekadenten“ Norden niederschlagen. Cheheltans Thesen definiert die iranische Problematik als Verzögerung der Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne. Die Intellektuellen diskutieren, ob der Schah nur schlecht war oder doch gute Seiten hatte. Gelegentlich heißt es, er habe viele Straßen gebaut und Universitäten errichtet.

 

700 Kilometer Flug nach Osten. Shiraz, 1,5 Millionen Einwohner, liegt in der Wüste. Eine geruhsame Stadt mit frischer Luft und quirligen Hauptstraßen. Mittagessen im „Fast food“: iranische Burger (als „Berger“ angepriesen) und Salate mit Ami-Dressing. Dazu ein süßliches, alkoholfreies Malzgetränk unter der Bezeichnung „Bier“. Der Anbau der Shiraz-Weinreben, die einst in dieser Gegend wuchsen, ist seit 27 Jahren verboten.

Am Abend spaziere ich über den Karim Khan-e Zand Boulevard, trinke Karottensaft und esse Pizza. Alle starren auf ein kleines Fernsehgerät: Gewichtheben bei den Asian Games. Die Menge bejubelt die Goldmedaille von Hossein Reza Zadeh aus dem Iran. Er stemmt 130 Kilogramm. In jenem Augenblick, als er seinen Sieg begreift, nickt der Gewichtheber befriedigt, und in seinem Fettwulstgesicht erblüht ein Lächeln. Noch eine Stunde später wiederholen sie die Szene immer wieder in Zeitlupe, untermalt mit der Hymne.

 

Shiraz: In einem Hinterzimmer, in konspirativer Stimmung, laufen „verbotene“ exil-iranische Musikvideos. Sie reproduzieren die verordente Moral im Grundsätzlichen, nicht jedoch im Formalen. Drafi Deutscher meets Abba meets Islam. Es wird geshaked und gegroovt, in den ästhetisch-erotischen Stereotypen des Westens. Macho-Allüren, Lady-Glanz, etwas nackte Haut, etwas angedeuteter Sex. Im musikalischen und ästhetischen Bereich bleiben die Videos fest auf dem Boden der frühen Achtziger Jahre.

Eine der Stories geht so: Ein etwas dickliches Bürschchen (cool, angepasst, reich) lädt seine Freundin (hübsch, brav, verschleiert) zum Schnellbootfahren und Motorradfahren ein, dann ins Restaurant. Am Nebentisch sitzen zwei West-Boys (gewalttätig, schwarze T-Shirts, schwarze Hosen) und flirten die Freundin aufdringlich an. Als Bürschchen und Freundin das Lokal verlassen, versperren ihnen die Boys den Weg. Bürschchen kassiert eine Ohrfeige. Freundin mischt sich ein. Einer der Boys zieht ein Messer und schlitzt ihr Gesicht auf. Eine Unmenge an Blut quillt hervor. Die Schurken flüchten. In der nächsten Szene kehrt Freundin aus dem Krankenhaus zurück, mit Gesichtsnarbe, entstellt. Bürschchen sitzt schon wieder da – mit einer neuen, narbenlosen Flamme: Gesellschaftskritik?

Die meisten Videos stammen von einer Produktionsfirma namens IROONI. Man fragt sich, ob da nicht große Ironiker am Werk sind.

 

Im Iran heißt es, die islamische Wahrheit sei unteilbar und endlos – obwohl sie kein einziger Mensch, den ich treffe, ernsthaft vertritt. „Das persische Hamster-Drehrad“, sagt einer, der Ali heißt, „jeder wartet, dass der Boden unter den Füßen endlich stillhält, aber wir rennen munter weiter und glauben, es ginge voran.“ Viele Gespräche führen zum Kopftuch zurück: Resignation, aber auch Verteidigung der aufgezwungenen Lebensform. Der Westen, wo wegen des Traditionsverfalls falsch verstandene Liberalität vorherrsche, würde allzu reflexartig die angebliche Unterdrückung der Frau im Islam beklagen. Doch sie lasse sich nicht an Bekleidung festmachen, es gäbe ja Gradmesser: Beschäftigungsdaten, Umfragen über Lebensgefühl, jede Art von Statistik.

Sobald der Diskurs politisch konnotiert ist, birgt er die Gefahr des Hintergrundbilds eines Kulturkampfes Islam gegen Christentum in sich. Wer sich aber auf christliche Traditionen beruft, hat kein Mandat für Kritik am Islam. Fest steht: Die iranische Gesellschaft verordnet jedem 12-jährigen Mädchen das Kopftuch, und sagt damit: Du bist kein Junge, du bist eingeschränkt. In Europa gibt es das Spiegelbild der Debatte, den „Kopftuchstreit“ in Frankreich und Deutschland.

Aiman Mayzek, Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, hält das Kopftuch zwar für eine „Pflicht“, besteht aber auch darauf, dass gläubige muslimische Frauen, die keines tragen, nicht weniger gute muslimische Frauen seien. „Das Kopftuch ist nicht die sechste Säule des Islam. Die fünf Säulen sind das Glaubensbekenntnis, die täglichen Gebete, die Wallfahrt nach Mekka, das Almosen, das Fasten. Vom Kopftuch ist da nicht die Rede.“ („Der Tagesspiegel“, 23.12.06). Die Autorin Chahdortt Djavann, Iranerin in Paris, bekannt geworden durch den mitreißenden biographischen Roman „Parvaneh heißt Schmetterling“ (2002), führt einen Kampf gegen das Symbol, das Frauen im rechtlosen Raum einordne. Es könne, argumentiert sie, kein islamistisches System ohne das islamische Kopftuch geben, sehr wohl aber einen Islam ohne Kopftuch. Und eine Unterwerfung werde nicht gerechtfertigter dadurch, dass sie freiwillig geschieht.

 

Der Bazar in Shiraz: wenig Aufdringlichkeit, keine Touristen. Die Geschäftsstraßen bleiben ganz bei sich, drängen nicht nach außen, decken die vitalen Bedürfnisse. Das ist angenehm. Ein paar Regenschirme hängen zum Verkauf, Aufschrift: „Five Star Umbrella – Especial for Europe – Made in Japan.“ Daneben betrachten zwei kleine Mädchen ein Plakat vom Superstar Ali Daei.

Persische Frauen lieben Fußball. Doch weibliche Fans dürfen nicht in die Stadien. Manche versuchen es trotzdem, als Buben verkleidet. Der Film „Offside“ von Jafar Panahi (Iran 2006, keiner seiner Filme lief bisher im Iran), Gewinner des Silbernen Bären bei der Berlinale, zeigt anschaulich die Doppelmoral und Absurdität der Geschlechtertrennung. Und entlarvt sie, zum Beispiel angesichts der hilflosen Argumentationsversuche der jungen Polizisten, die dieses Gesetz exekutieren müssen. Präsident Ahmadinejad, der bisher durch Hetzreden und Organisation der grotesken „Holocaust Konferenz“ auffiel, verkündete im April 2006 das Ende des Stadionverbots für Frauen, musste die Zusage aber wegen Widerstand der Staatsführung zurücknehmen. Viele sagen, diese Episode spiegle die tatsächlichen Machtverhältnisse wider.

Am Ausgang des Bazars verkauft ein Mann selbst gekochte Kichererbsensuppe mit zwei scharfen Saucen, einer roten, einer grünen. Frauen und Männer essen nebeneinander, stehend, es gibt keine Unterschiede, keine Religion, sondern einfach nur Kichererbsen.

 

Ich blättere in der Tehran Times: Die Leitglosse trägt den Titel „Zionism: Pitting the West against Islam“ (4.12.06). Im Tonfall gewollt „objektiv“, abgeklärt-moderat, bietet sie nur ein einziges Argument: Die Zionisten würden geschickt den Westen gegen den Islam ausspielen. Der Kitt, der den Text zusammenhält, ist Hass, gezügelt und fein dosiert als Pseudoanalyse. Ich kenne ähnliche „Argumentationen“ aus Jordanien, Syrien, Indonesien. Legendenbildung gehört zum Kanon. Die Zionisten, so heißt es, spannen den Westen für ihre Interessen ein: Imperialismus, Antisemitismus, Kreuzzugsnostalgie, tief verwurzelter Rassismus – das alles habe zur Schaffung eines westlichen Surrogatstaates in muslimischem Kernland geführt.

Die Interpretation einer politischen Krise als Kultur- oder Religionskampf lässt den Begriff der Zivilgesellschaft ebenso konsequent außer Acht, wie sie mit der Polarisierung spielt – nicht nur der Meinungsteil, auch die Chronik der Tehran Times bastelt an diffusen Bedrohungsszenarien. So „sagte ein iranischer Experte für Geopolitik am Sonntag“, dass Zionisten „und ihre neo-konservativen Kollegen in den USA“ bereits „seit Jahren versuchen, den Iran zu teilen“. Auf welche Art und wie wirkungsvoll sie das tun, lässt Dr. Piruz Mojtahedzadeh von einer Teheraner Universität weitgehend im Dunklen.

 

Rückkehr nach Teheran. Die schwarzen Stadtautobahnen ergießen sich ins Zentrum, zu den Schaufenstern, die bis 20 Uhr hell glänzen, bevor die Stadt erlischt – ohne offizielles Nachtleben. An den Kreuzungen haben Männer kleine Feuer entfacht, Vorüberschlendernde wärmen sich die Hände. Der Taxifahrer spricht frei heraus: „1979 glaubten wir an eine demokratische Revolution. Es kam anders. Seitdem hieß es immer wieder, die Islamisten seien am Ende. Aber dann – nichts.“ Die Regierenden repräsentierten etwa 10 Prozent der Bevölkerung, doch man bekäme die radikale Minderheit nicht los. 27 Jahre „Revolution“ hätten, mit Gewalt und Repression, den Großteil des politischen Widerstands ausgerottet. „Dabei ging es anfangs so langsam. Ein paar alte Tanten trugen Kopftücher. Die wurden immer mehr. Später sind bei den Volksliedern vermehrt religiöse Texte gesungen worden. Man wusste nicht, ist das Ironie, oder ist das schon die Wirklichkeit.“ Der Taxifahrer erzählt Anekdoten über die frömmelnden Mullahs und die idiotischen „Zivilen“. Ein Bürger, der sich mit Hilfe von Witzen gegen den Überwachungsstaat wehrt? Während er den Wagen in einen Kreisverkehr quietschen lässt, habe ich plötzlich den Eindruck, der Witz wehrt sich selbst, ganz von alleine. Denn die Bürger sind vorsichtiger als der Witz.

 

Amir Hassan Cheheltan lächelt, wenn die Rede auf seine Heimatstadt Teheran kommt. Der 1956 geborene Autor ist ein vorsichtiger, aber standhafter Mann. Inzwischen hat er sich durch regelmäßige Publikationen im Ausland einen Namen erworben, der es seinen Gegnern nicht leicht macht, seine Meinungen zu übersehen. In der FAZ erwähnt er das Verbot der Festlichkeiten zum Internationalen Frauentag ebenso wie die Vollversammlung des Schriftstellerverbands, die nicht stattfinden konnte. Er ironisiert die gespaltene Gesellschaft mit der These, im Iran müsse ein gefälschtes Volk existieren. „Das Gerücht eines gefälschten Volks gewann in dem Augenblick an Substanz“, schrieb er 2004, „in dem die Konservativen verlautbaren ließen, das iranische Volk habe mit seiner überwältigenden Beteiligung an den Wahlen einen Mythos geschaffen, und die Reformer im Gegenzug erklärten, die Bevölkerung habe ihre aktive Teilnahme an den Wahlen verweigert. Ganz offensichtlich ist eines dieser beiden Völker gefälscht.“