Gipfelsturm und Kellerlabyrinth

Die kantonesische Metropole bietet nicht nur Wolkenkratzer und Rooftopbars – sie ist ein Wanderparadies mit tollen Stränden. Und ein heller Park birgt eine düstere Geschichte.

Hongkong ist die schnellste Stadt der Welt. Geldscheine werden hingeblättert, als würde es sich um eine Runde Kartenspiel handeln, die Grünphasen an den Fußgängerampeln dauern wenige Lidschläge lang, und wer nach dem Weg fragt, erntet den verständnislosen Blick des 21. Jahrhunderts, he Alter, ist dein iPhone kaputt?, bevor eine druckreife, aber völlig unnachvollziehbare Schnellversion in Worten folgt ... und ehe man sich bedanken kann, sind die Helfer schon wieder über alle Berge.
Es ist nicht zuletzt die Rasanz der Gedanken, die Geschwindigkeit des kantonesischen Business, die die Stadt mit ihren 7 Millionen Einwohnern zu einem der wichtigsten Handelshäfen Asiens und zu einer wirtschaftlichen Macht aufsteigen ließ. Mit 16.000 Menschen pro Quadratkilometer eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, hat sie seit der Rückgabe durch Großbritannien im Jahr 1997 den Status „Sonderverwaltungszone“. Die unchinesische Spielart des Kapitalismus durfte getreu der Doktrin „Ein Land, zwei Systeme“ weiterexistieren. Was Selbstbestimmung betrifft, so wird deren Grad seitdem von Peking festgelegt, sehr zum Unmut der Zivilgesellschaft, die im Vorjahr mit Protesten („Occupy Central“) darauf reagierte.

Freude über Tiefkühler. Chinas Wirtschaftswunder ist auch hier weithin sichtbar. Doch wo auf der einen Seite Landreklamationen die Küstenlinie um hunderte Meter verschieben und Wolkenkratzer in die Höhe gezogen werden, bewegen sich drei anachronistische Verkehrsmittel, alle älter als hundert Jahre, mit starrem Eigensinn durch die urbane Landschaft. Zuerst die weiß-grüne Star Ferry, seit 1888 eine Art Pferdekutsche über die Meeresenge zwischen Hongkong Island und Kowloon. Da die Einheimischen irgendwann ausblieben, wurden in den Oberdecks der Fähren jüngst Abteile mit Air-Condition eingerichtet. Kein Ausländer tut sich die Tiefkühltemperatur an, doch schnurstracks steuern die Hongkonger darauf zu.
Ein weiteres Emblem verkehrt auf Hongkong Island, dem Kern der alten Kolonie, die von den Briten 1841 erobert und 1898 mitsamt ihren damals 235 (heute 263) abgezählten Inseln für hundert Jahre geleast wurde. Die doppelstöckige Hongkong Tramway überschreitet kaum je die dreißig Stundenkilometer. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts rattern die rechteckigen Wägen, in denen die Zahlung erst bei Ausstieg geleistet wird – wer zu viel in den Topf wirft und auf Wechselgeld wartet, wird enttäuscht – in sensationeller Frequenz zwischen dem Supermarkt-und-Nachtleben-Viertel Causeway Bay und der sich lässig gentrifizierenden Kennedy Town und durchquert im Zentrum holpernd die mondäne DeVoeux Street. Nebenan führen die Gässchen den Hang nach oben, manche mit Souvenirmüll verstopft, auf anderen stapeln sich die frischen grünen Drachenfrüchte, zucken die Fische mit den abgeschlagenen Köpfen in ihrem Blut, zack zack werden Teile vom Rumpf geschnitten, Hongkong Dollar hin und her, schon gehört einem das Fischfilet.

Blaue Schmetterlinge. Die Peak Tram, eine weinrote Standseilbahn, befährt den Victoria Peak seit 1888 bei einem nervenzerfetzende Gefälle von bis zu 45% – sie hat die Sänften abgelöst, mit denen sich die Briten auf den Gipfel bringen ließen. Bei unvorhergesehenen Haltestopps, aber auch am Ziel, ruckeln die Garnituren einen halben Meter nach hinten, bevor sie sich weich im Seil fangen. Statt einer Bergstation erhebt sich ein Glaspalast, ein flach liegender Kreisausschnitt auf Betonfüßen. Hässliche Grandiosität herrscht auch innen vor, ein Ausflug in die brave new world, dutzende Rolltreppen bevölkern acht Stockwerke mit dutyfreeähnlichen Shops und der furchtbarsten chinesischen Systemgastronomie. Die Schilder an den Rolltreppen sind pure Lyrik, „Hold the handrail / Stand clear of the edges / Don´t look at your mobile phone”. Kein Einheimischer beherzigt auch nur zwei der drei Aufforderungen.
Von den Eintrittspreisen der „Sky Terrace“ erfährt man an der vorletzten Kurve. Naja, und vor den Augen des Betrachters befindet sich an den wenigen klaren Tagen das erwähnte Hongkong, 7 Millionen Einwohner, meist verdeckt von einem Stillleben an Wolken, die sich am nahen 552 Meter hohen Gipfel verfangen. Der Rundweg („Peak Circle Walk“) ab Lugard Road ist dem Turm weit vorzuziehen, mit blauen Schmetterlingen, Libellen und Wasserfällchen, je nach Luftfeuchtigkeit bis zu einer Stunde Gehzeit. Auch bei Regen ist nicht alles verloren, das Wetter hat etwas manisches, Sonne sticht gerne durch. Außer natürlich, der gefürchtete „black rain“ donnert herab.

Strandfreuden und Wanderparadies. An dieser Stelle beginnt der fünfzig Kilometer lange Hong Kong Trail, der die fünf Nationalparks dieser Insel durchkreuzt und am Big Wave Bay endet. Denn hinter dem höchsten Gipfel erstrecken sich unbebaute Hügel mit Wäldern.
Zum Baden fahren die Hongkonger nach Shek O. Schon die Anfahrt mit dem Doppeldeckerbus ist ein Erlebnis. Über eine haarsträubende Straße rast ein Bus, der so breit ist wie seine Fahrspur, an ausgeschlagenen Steilwänden entlang und hindurch unter Bäumen mit tiefhängenden Ästen, die gegen seine Vorderscheiben dreschen, als wollten sie sie brechen. Shek O hat Dorfcharakter und ähnelt, ausgenommen die merkwürdigen Tempel, einem italienischen Badeort in den Sechzigerjahren. Das Wasser des südchinesischen Meers ist verboten warm, auch im Winter durchaus wärmer als jeder See im August im Salzkammergut. In einer Bucht mit Strandcafés und Lokalen wachen Lifeguards darüber, dass das Volk von Nichtschwimmern nicht untergeht. (Trotzdem beklagt man mehrere Ertrunkene pro Jahr.)
Wer nicht ertrinken will, geht in Hongkong Wandern, das beherrschen die Chinesen deutlich besser. Nicht nur Hongkong Island ist großteils grün, auch die Inseln. Die drittgrößte, die autofreie Lamma Island, bietet einen einstündigen Spazierweg von Yung Shue Wan zu den Fischrestaurants von Sok Kwu Wan – mit einem Zwischenstop beim Concerto Inn, wo man das Lamma-Puddinggericht Kin Hing Tofu Desert kosten kann – doch andere Wege führen zu den Steinfeldern im Süden, oder zu Fischerdörfern. Und auch zu einem Strand, wo die (der Name!) gefährdete Suppenschildkröte ihre Eier legt, Betreten verboten zwischen Juni und Oktober. Die Suppe gibt es seit 1984 nicht mehr, die Dunkelziffer ist gleichsam null, die Strafen beträchtlich.
Das größte Wandergebiet erstreckt sich über die New Territories mit ihren 23 Naturparks (40% der Gesamtfläche). Man begegnet der Zibetkatze, aber auch dem Chinesischen Schuppentier. Auf der zweiten Sektion des berühmtesten Wanderwegs, des MacLehose Trails, liegt am Ufer Chek Keng, das halb verlassene Dorf mit Ruinenhäusern, einer aktiven Jugendherberge und einem Pier, an dem Linienschiffe anlegen. Von den Affen, nicht endemisch, sollte man sich fernhalten. Aber keine Angst vor den ausgewilderten Kühen, die gerne im Weg liegen – haben schon den einen oder anderen Wanderer zum Kehrtmachen gebracht – und vor dem kleinen Leoparden, durch die Büsche streift: Es handelt sich nur um die wilde Bengalkatze

Der Walled City Park. Alleine zwei Millionen Menschen leben in Kowloon, der südlichen Spitze der New Territories, links und rechts der zentralen Nathan Road, hinauf zum Arbeiterbezirk Mong Kok mit seinen Tier-, Lebensmittel- und Kleidungsmärkten. Eine kurze Taxifahrt weiter östlich, auf der Höhe von Little Bangkok, liegt ein Park. Wasserspiele sprudeln, Stundenten spielen Schach, Pensionisten boxen Schatten, philippinisches Dienstpersonal picknickt. Die Mehrzahl der Besucher ahnt nichts vom historischem Boden unter ihren Füßen.
An dieser Stelle befand sich vor gut zwanzig Jahren noch die „Walled City“, eine fast quadratische Enklave, in den Achtzigerjahren mit 50.000 Einwohnern der Ort mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt, regiert und bewirtschaftet von den Triaden, der chinesischen Mafia – ein Bagel-Loch chinesischer Souveränität im britischen Hongkong. Die überbauten Straßen lagen im Dunkeln, auf die Gebäude wurden immer weitere Stockwerke aufgepfropft, bis zu fünfzehn, was für die Einflugschneise des Stadtflughafens Kai Tak problematisch wurde. Auf den Dächern spielten untertags die Kinder, nachts blühte der Drogenhandel.
Die Walled City konnte bestehen, weil sie zu Dumpingpreisen Produkte herstellte, die in der Stadt benötigt wurden: Webereien, Druckereien, Lebensmittelverarbeitung (von Frühlingsrollen bis Obstsalatschneidung für die großen Lokale) und Produktfälschungen – alles Billigjobs ohne jegliche Versicherung. Auch Stadtbewohner profitierten, sie besuchten die lokalen Dentisten, die in gutem Ruf standen.
In den späten Achtzigern einigten sich die Briten und Chinesen auf einen Abriss, die Bewohner erhielten Abfertigungszahlen, viele wollten eigensinnig bleiben, es kam zu Demos und Zusammenstößen, doch schließlich siegte 1993/94 die Abrissbirne. Stehen geblieben ist das sogenannte Yamen Building, in dem einst ein improvisiertes Altersheim untergebracht war. Es beherbergt heute eine interaktive Ausstellung, schnörkellos, informativ, ohne technische Gebrechen, so wie man sie sich in Europa oft wünschen würde. Hongkong pflegt hier einen respektvollen, lehrreichen Umgang mit seiner Vergangenheit.

 

Baden. Man erreicht die Bucht von Shek O mit dem Doppeldeckerbus der Linie 9 von der Ubahn- bzw MTR-Station Shau Kei Wan.

Essen. Die kantonesische Küche gehört zur vielseitigsten der Welt. Das Dim Sum, berühmte südchinesische Jause aus dampferhitzten Knödeln, Teigtaschen und Bällchen im Bastkorb, heißt hier Yum Cha, also Teetrinken, man findet sie unter anderem im Luk Yu Tea House, 24-26 Stanley Street, Central; berühmt ist auch das Straßenessen, u.a. in der Dundas Street in Mong Kok (Spezialisten für Innereien; meist auf Spießen oder in der Reisnudelsuppe), auf der Electric Road in Tin Hau oder gleich an den Nebenstraßen der Nathan Road.

Wandern. Hongkong ist als Hikingdestination bisher weithin unterschätzt, doch neun Zehntel seiner Fläche ist grün. Deutschsprachige Touren werden u.a. angeboten von www.wandern-hongkong.com, englischsprachige Touren gibt es u.a. bei www.hongkonghikers.org oder www.walkhongkong.org

Demonstrieren. [foto 2840, 2965] Die „Umbrella Revolution“ der gelben Schirme sorgte 2014 für Schlagzeilen, es ging um politische Mitbestimmung und Demokratisierung der von China dominierten Stadtpolitik. Dabei wurden u.a. Teile der Stadtviertel Central und Admiralty besetzt. Stadtchef CY Leung machte dabei eine schlechte Figur und vermutete „foreign forces“ hinter den Protesten. Neben den Studenten und den Schülern engagierte sich die Bürgerrechtsbewegung „Occupy Central with Love and Peace“. Nach 79 Tagen wurden die letzten Camps und Zelte der Studierenden aufgelöst und abgebaut. Die Forderungen nach freien Wahlen blieben aufrecht.

Historisieren. Über die „Walled City“ existiert interessanterweise eine ORF-Dokumentation von Christina Wesemann aus dem Jahr 1988 (Redaktion Hugo Portisch). Sie zeigt einzigartige Aufnahmen aus dem unterirdischen Straßenlabyrinth, den Produktionsstätten und den Privatwohnungen. Auf Youtube ist sie fast in ihrer Gesamtheit verfügbar.

Schlafen. Das Hotel ICON in Kowloon hat große Zimmer (in HK sehr selten), ist stilvoll, liegt zentral und kratzt an den fünf Sternen; 17 Science Museum Road, Tsim Sha Tsui.

[Der Autor war mit seinem Roman „Der Fisch in der Streichholzschachtel“ für eine Lesung vom Österreichischen Generalkonsulat Hongkong eingeladen]