Martin Amanshauser
Ich sollte auf eine Selbstversorgungshütte fahren, dort eine Weile verbringen, und als Ergebnis bei der Zeitschrift „Wald“ einen Text von 12.000 Zeichen Länge abliefern. Worüber?, fragte ich. Die Redaktion antwortete in eisiger Toleranz: Egal worüber. Irgendwas. Du bist ja der Schriftsteller. Schick uns einfach, was dir in der dortigen Abgeschiedenheit einfällt.
Was wollen die von mir?, grübelte ich. Schon seit geraumer Zeit, seit ungefähr zwanzig Jahren, bildet sich in meinen Texten nicht mehr der Ort ab, an dem ich mich befinde und ich halte das für einen meiner größten literarischen Fortschritte. Ich brauche keinen Sandstrand, um vom Sommer zu schreiben, und keinen Berggipfel, um den Winter mit Worten zu skizzieren. Es verhält sich übrigens auch nicht umgekehrt, ich schreibe nicht im Winter am besten über den Sommer. Im Grunde, dachte ich, ist es ein Auftrag, also schreibe ich das, was sie wollen. Aber das ging ja jetzt nicht.
Am Tag, als ich die Gschüttstube bezog, eine kleine Hütte auf dem Pass Gschütt in Gosau mit Eva, 34, und Jim, 2, weil ich Familie mitnehmen durfte war ich der festen Gewissheit, dass ich am Ende des Aufenthalts ein Dutzend Gedichte abliefern würde. Es drängte mich schon seit längerer Zeit zur Lyrik. Ich hatte eine Idee, die ich „Winterpoesie“ nannte, Gedichte, die denkbar unpoetisch sein würden, spröde, kalte Texte, die bei Berührung zu spitzen Eiskristallen zerfallen würden. Die graphische Lösung würde dann das Problem von „Wald“ sein.
Die Selbstversorgerhütte namens „Gschüttstube“ steht zwischen Oberösterreich und Salzburg. Die Landesgrenze verläuft sogar mitten durch die Hütte, so dass der gemütliche Ecktisch noch in Salzburg steht, während sich der Holzofen bereits in Oberösterreich befindet. Oder umgekehrt? Der Ofen von der Größe eines Pharaosarges wird, zumindest im Winter, zum Brennpunkt aller Aktivitäten. Mit seiner Wärme oder Nicht-Wärme steht und fällt das Wohlbefinden der Bewohner. Ständig muss sich jemand damit beschäftigen, Holzscheite von draußen hereinzubringen. Jemand von uns! Es gibt in diesem Hotel keine Stubenmädchen, weil es ja auch keine Rezeption gibt, sondern nur uns drei. Und wir brauchen viele Scheite, denn der Ofen frisst unermüdlich. Die Aufgabe, Holz vom Stapel nach drinnen zu bringen, fällt mir zu. Jim, das 2-jährige Großstadtkind mit dem altersgemäßen Hang zu 3-Wort-Sätzen, formuliert diesen Vorgang gleich treffend: „Papa Steine tragen“.
Draußen liegt ein halber Meter Neuschnee über allem. Die Gschütthütte hat Strom, doch Fließwasser fließt keines. Eine der Vorabinfos, die ich bekommen hatte, war: „Brunnen ist eingefroren.“ Vor Ort stellt sich heraus, dass es sich nicht um ein vorübergehendes Einfrieren wegen plötzlicher Kälte handelt: Dieser Brunnen ist jedes Jahr bis tief in den April außer Betrieb.
Damit wir nicht völlig vertrocknen, hat man uns einen 20-Liter-Kanister mit Trinkwasser gebracht. Aber Leute aus der Stadt brauchen viel Wasser! Auf der Herdfläche beginne ich enthusiastisch mit dem Projekt Schneewasser-Schmelze. Das Resultat ist zum Haareraufen: Ein großer Topf Schnee ergibt höchstens einen Viertelliter Wasser, und die Ausbeute ist derart verschmutzt, dass man es nicht einmal als Abwaschwasser verwenden kann.
Wie soll ein Erwachsener dichten, wenn ein 2-jähriger alle Wörter nachplappert? „Eiszapfen, Eiszapfen“, murmle ich, und Jim wiederholt „Eispappe, Eispappe“, ich nenne ihn daraufhin „Papagei“, er pariert mit „Pagga-bei, Pagga-bei“. Ich starrte in sein lachendes Gesicht: In der Nähe dieses Menschen würde es schwer werden, ernsthaft zu schreiben.
Ob ich es mit der totalen Dekonstruktion der Sprache versuchen sollte? Hieß der Ausweg Experimentelle Lyrik? Ernst Jandl schrieb in Versform, dass die Rache der Sprache das Gedicht sei, wobei er die beiden ersten Substantive dieser Aussage reimte die Rache des 2-jährigen an der Sprache ist zweifellos das Echo.
Der erste Tag geht zu Ende, der Inhalt des Wasserkanisters zum Glück noch nicht, denn wir verzichten auf eine Dusche. Wir kochen Spaghetti mit Tomatensauce. Auf der Herdfläche ist das wunderbar 20 Töpfe hätten Platz. Wenn man ordentlich einheizte, wäre es auf einem solchen Ofen möglich, eine ganze Skihütte zu verköstigen.
Nach dem Essen kommt mir vor, dass der Ofen „zu voll“ ist, die Asche steht zu hoch! Mit einer Eisenschaufel schiebe ich einen Teil der Asche in eine Pappendeckelkiste. Da vieles noch glüht, funktioniert das nur, indem ich die Kiste hastigen Schritts nach draußen bringe und ausleere. Sie frisst zischende Brandkreise in den Schnee.
Eisige Nächte. Jim will nicht auf dem Boden schlafen, wo wir aus Decken ein Bett für ihn errichtet haben er schläft zwischen uns, wo es am wärmsten ist. Während unseres Aufenthalts wird das so bleiben. Manchmal zeigt er zwar nach unten und sagt „Bett runter! Bett runter!“, wenn man ihn hinunterlegt, zeigt er jedoch sofort wieder nach oben: „Bett rauf! Bett rauf!“
In der Dunkelheit lassen wir ein kleines Licht brennen. Ich knipse ein Foto von ihm und Eva, schlafend wie Innuits in einem Iglu.
Der Ofen erlischt in der Nacht drei Mal, aber es gelingt mir drei Mal, das Feuer neu zu entfachen. Als Jim dann beim Frühstück bilanziert „Ütte O-nung! Ütte O-nung! Ütte O-nung!“, also „Hütte, Wohnung“, weiß ich, dass wir uns fürs erste angepasst haben.
Der dazugehörige 3-Wort-Satz lautet „Ütte anne O-nung“: Hütte andere Wohnung. Könnte mir die originelle Wortstellung beim Dichten helfen? Das Problem besteht darin, dass sich mein Kopf völlig leergeräumt anfühlt. Als hätte jemand die Gehirnsubstanz-Asche mit einer Eisenschaufel entfernt. Habe ich gar etwas derartiges geträumt? Das mit der Lyrik würde nicht so leicht werden.
Morgensonne Zähneputzen Skifahrer: So würde ich einen 3-Wort-Satz bilden. Leider führt eine Tourenstrecke direkt vor der Hütte vorbei. Immer wieder zischen Skifahrer nach unten Eva warnt, man müsse links und rechts schauen, bevor man nach draußen tritt. Jim kommt neugierig zu uns: „Ütte anne O-ung“, wiederholt er, „Ütte anne O-ung!“ Das klingt rhythmisch, das ergibt Sinn, das hat Fremdartigkeit und Verfremdung in sich. In diesem Moment begreife ich: „Ütte anne O-ung“ ist glasklare Winterpoesie.
Auch wenn man sehr behutsam mit 20 Liter Wasser umgeht, irgendwann kommt der Moment, an dem es erschöpft ist. Zum Glück treffe ich einen Nachbarn, und der hat unten bei sich einen durchgehend rinnenden Brunnen mit freiem Zugang das größte der Probleme ist gelöst! Der Nachbar sieht nett aus, aber auch etwas einsam. An seinem Haus ist ein Schild angebracht: „Passhöhe 971 Meter. Gastwirtschaft.“ Auf der anderen Seite steht der Name der Gastwirtin: Agathe Grünwald. Der Nachbar erzählt, dass es sich um die älteste Lokalbesitzerin der Umgegend gehandelt hat. Sie hätte erst im hohen Alter von 96 Jahren, in den Achtzigern, geschlossen.
Die Hütte, der Wald, der Schnee bergen Rätsel. Zum Beispiel die enorme Pfotenspur eines Tieres, direkt an der Stelle, wo ich mein kleines Geschäft mache! Plötzlich, eines Morgens, ist sie sichtbar. Eine Katze kann das nicht sein, ein Hund auch nicht sie ist viel größer. Ein Schneeleopard? (Der Nachbar lacht, als ich ihm von meiner Vermutung erzähle.) Ich verwische die Spur, setze nachts keinen Fuß mehr vor die Hütte. Am nächsten Morgen sind neue Pfotenabdrücke im Schnee. Ein Tier aus dem Wald oberhalb der Hütte? Ich beschließe, Eva nichts davon zu erzählen.
Bei einer Selbstversorgerhütte ist es selbstverständlich nötig, die Toilette zu beschreiben. Vorteil: Sie ist indoor. Nachteil: Sie ist ungeheizt. Es handelt sich um ein klassisches Plumpsklo. Das große stürzt ebenso wie das kleine Geschäft zwei Meter nach unten, die Papiere flattern nach. An der Holzwand hängt ein Gerät namens Frostwächter, das wir nie in Betrieb nehmen. Es sieht irgendwie bedrohlich aus. Neben der Kloöffnung steht ein Fläschchen mit einer Ammoniaklösung („verursacht Verätzungen“), die eventuell dazu dienen könnte, die Exkremente zu zersetzen? Ich verzichte auf diesbezügliche Versuche. Sie sind so weit unten, sie frieren schnell ein. „Sie sind so weit unten, sie frieren schnell ein“: Guter poetischer Satz, bestechender Beginn für einen längeren Text.
Obwohl: beim kleinen Geschäft verzichte ich jetzt meistens auf das Plumpsklo. Ich habe draußen vor der Hütte eine gute Stelle zum Hinmachen gefunden. Dass Eva auch schon eine solche Stelle hat, verblüfft mich.
Nach einer knappen Woche haben wir gelernt, wie man sich wäscht, kocht, das Geschirr reinigt. Die täglichen Beschäftigungen kosten ebenso wenig oder viel Mühe wie daheim. Ich beherrsche den Ofen, verwende weniger Holzscheite, muss seltener pro Nacht aufstehen, die Stube bleibt trotzdem warm. Die herumliegenden Zeitungen, von denen ich dachte, ich würde sie verheizen, lasse ich unberührt. Zum Beispiel berühre ich die an der Wäscheleine hängende Ausgabe der „Schwabmünchner Allgemeinen“ vom 13. Dezember 2002 nicht. In ihr wird berichtet, dass die Fußball-Europameisterschaft an Österreich und die Schweiz vergeben wurde.
Wir wärmen ein Schaff Wasser, um Jim durchzubaden. Er hat großen Spaß. Ich singe unser Badelied vor, das ich für ihn erfunden habe: „Die Partymaus / ist niemals z´haus / Die bad´te Maus / ist selten z´haus / Die alte Maus / ist immer z´haus / auf Pflegestufe zwölf. // Der Jim der ist / die Bademaus / Er badet jetzt / im Badehaus / und mittlerweile / ist er schon / auf Pflegestufe elf.“ Vielleicht sollte ich solche kleinen Texte schreiben, Ausdrucksformen des simplen Lebens, übersetzt auf die schneebedeckte Wildnis rundum?
Der Rhythmus und die Melodie meines eigenen Badelieds gehen mir wie ein unseliger Ohrwurm nicht aus dem Kopf, so dass es unmöglich scheint, andere Texte hinein- und dann wieder hinauszukriegen. Heute jedenfalls nicht. Was für eine schreckliche Erfindung, der menschliche Kopf! Dass es Leute gibt, die Geld mit der Herstellung von Texten verdienen … es erscheint mir so grotesk, so überflüssig, während ich Holzscheite zum Ofen trage und in der Mittagssonne dem Tröpfeln der Eiszapfen lausche.
Eva fährt zum öffentlichen Schwimmbad von Gosau, um sich grundlegend zu waschen.
Ich lese „Bergkristall“ von Adalbert Stifter aus dem Jahr 1853. Stifter soll sich in der Gosauer Gegend zu diesem Text inspiriert haben. Es handelt von Bruder und Schwester, die sich während eines Schneesturms auf den Gletscher verirren und in einer Höhle übernachten. Zu meiner Verblüffung wirft der Autor die große Chance weg, seine kindlichen Protagonisten sterben zu lassen und die Leser damit tief zu erschüttern. Man muss als Autor schon sehr stark an seine Geschichte glauben, um so zu verfahren oder einfach katholische Interessen vertreten. Stifters Happy End ist beinahe unerträglich undramaturgisch.
Trotzdem fühle ich etwas Unheimliches, einen Schauer, als ich nach Mitternacht auf dem Plumpsklo sitze. In der Finsternis sieht man nichts von dem, was unter einem vorgeht. Sie sind so weit unten, sie frieren schnell ein, spreche ich mir rhythmisch vor, Sie sind so weit unten, sie frieren schnell ein.
Was wäre, wenn ich hier in der Kälte sitze und sitze, und ganz anders als die Stifterkinder tiefer und tiefer in den Schlaf versinke, von meinem Rhythmus in den eisigen Tod getrieben, wer weiß, durch das Plumpsklo nach unten stürze, kopfüber, Gehirnerschütterung, Bewusstlosigkeit, Frost. (Und das Tier mit den riesigen Pfoten, das dort oben im Wald lebt!)
Wer weiß, ob Eva, die seit Stunden schläft, mit Jim neben sich, rechtzeitig auf die Idee kommt, nach mir zu suchen?
Sie sind so weit unten, sie frieren schnell ein.
„Holz Scheite Holz Scheite Holz Scheite!“ Jim hat inzwischen akzeptiert, dass wir in diesem Ofen keine Steine verbrennen. „Beuer Nee! Beuer Nee! Beuer Nee!“ (Feuer/Schnee), ruft er ebenfalls, und bringt damit die Erdelemente auf den Punkt, die uns in der Selbstversorgerhütte umgeben. Wenn Skifahrer vorbeiflitzen, ruft er: „Dschi! Dschi! Dschi! Nee! Nee! Nee!“ Seine Sprache wirkt unter diesen existentiellen Umständen noch dekonstruierter, als sie es ohnehin wäre. Was könnte ich damit anfangen? Beuer, Nee, Dschi, Ütte, Holz und Scheite in einen Topf werfen, schütteln, und etwas sprachlich völlig Neues daraus sampeln, etwas, das keiner vorher je versucht hat. Gebt mir Zeit!