Fehmarn und Lübeck – Deutschland

„Der Standard“, 1. Juli 2005


Goldblond de Haar / Treublau de Oogen

Wie viele berühmte Sätze stammen auch diese beiden von Thomas Mann: „Kennen Sie die Dünen auf Sylt? Man muss sie sich verfünffacht denken.“ Das muss man wohl tatsächlich, wenn man jenes Saharagefühl spüren will, das Thomas Mann angesichts von Nehrungen gewohnheitsmäßig befiel. Immerhin stammte er aus einer Region, wo diese Sonderform der Sandverdriftungen regelmäßig auftritt: Schleswig-Holsteins Ostseeküste.

Der Mann mit dem Faible für Nehrungen und Dünen wurde in Lübeck geboren, im Weltzentrum von Marzipan, Backsteinfassaden und hübschen Innenhöfen. Im Roman „Die Buddenbrooks“ (1901) hat er das Städtchen in seiner Lieblichkeit und Boshaftigkeit so pointenreich skizziert, dass noch 1955 bei der Verleihung seiner Ehrenbürgerschaft die Hälfte der Honoratioren ausblieb. Zumindest die Fassade des zum Museum umfunktionierten Buddenbrookhauses hat Lübecks einzigem Bombardement, 1942, widerstanden, in dessen Folge der Emigrant Thomas Mann – zu guter Letzt – NS-Deutschland verdammte.

Die alte Hansestadt Lübeck hat heute 200.000 Einwohner. Nicht weit vom Buddenbrookhaus steht die Marienkirche, imposantestes Exemplar deutscher Backsteingotik. Am Haupteingang sitzt auf einem Steinbalken der Teufel und lässt die Füße baumeln. Er soll beim Aufbau der Kirche eifrig mitgewirkt haben, solange man ihn im Glauben ließ, hier werde ein Weinhaus errichtet. Als angesichts der hochragenden Türme die Wahrheit nicht mehr zu verbergen war, geriet er in Wut und schwang den besagten Balken, um das Gotteshaus zu verwüsten. Doch die schlauen Lübecker besänftigten ihn – durch die unverzügliche Errichtung eines Ratsweinkellers gegenüber. Abgesehen vom Wein, wovon ernährt sich ein Kerl wie der Teufel im protestantischen Norden? Sicherlich von „Labskaus“, das rosafarbene Fleischwolfgericht aus Pökelfleisch, Zwiebeln, Roter Beete, Kartoffeln, Spiegelei, mit Matjes- oder Rollmopsbeilage.

Der Teufel ist im Norden also versöhnlich, und ebenso versöhnlich wird die Landschaft gegen die Ostsee hin: weiches Dunkelgrün, oft unter Nebelschwaden, die Bäume nehmen Buschform an. Im milden Schleswig-Holsteiner Sommer gibt es für Lübecker nur eine Richtung – die zur Ostsee, namentlich zur Insel Fehmarn, bekannt als sonnenreichster Ort Deutschlands.

Man wagt es kaum, die Frage auszusprechen – doch Besucher fragen sich unwillkürlich, ob die Insel Fehmarn auch wirklich eine Insel ist. Der Zugang zum Kontinent besteht in der knapp 1 km langen „Fehmarnsundbrücke“ aus dem Jahr 1963. Wer bei den Einwohnern nachfragt, erhält klare Antworten. Trotz der imposanten Brücke sagt man selbstverständlich „Insel“. Bis 1990 sei Fehmarn gar die größte Insel der BRD gewesen, seit der Wiedervereinigung liege leider Rügen an erster Stelle.

Wenn sie die Brücke zum Festland hin überqueren, so erklären traditionsbewusste Inselbewohner – wie sollte es anders sein – dass sie „nach Europa“ reisen. Fehmarn, üppig, sumpfig, fruchtbar, wird von ihnen als außergewöhnlicher Glücksfall beschrieben, ein Glücksfall von der Form des „Knusts“, so die norddeutsche Bezeichnung für das Brot-Scherzel. Knust allerdings nur vom Grundriss her – im Aufriss gibt es wenig zu sehen, der höchste „Berg“ misst ganze 27 Meter. Inselbewohner denken nun einmal eigenwillig, auf Fehmarner Platt stellt man sich die standesgemäße Geliebte so vor: „Goldblond de Haar / treublau de Oogen / So mütt min Madel sin / Von Fehmarn, vom Knust.“

Fehmarn wächst, ist ein Paradiesgarten für Nehrungen, wie sie Thomas Mann faszinierten. Der Knust verformt sich, die Verlandung nimmt zu, Dünen wachsen. Überhaupt wächst hier alles: Fehmarn ist, wie man hört, für Schleswig-Holstein das, was die Ukraine für die Sowjetunion war: Kornkammer. Im Mai blüht der Raps, ein Hauptexportprodukt der Insel, und die Sumpflandschaft versinkt unter einem gelben Teppich. Die Einwohner nennen die Rapsblüte „die fünfte Jahreszeit“. Humor der Abgeschotteten: Fehmarn wird selbstverständlich auch als „sechster Erdteil“ bezeichnet.

Und dann ist da der Wind: im Innenland stehen „Windparks“ mit fast 150 Windrädern – und an Fehmarns Küste, im feinen Sand, gibt es die bunten Strandkörbe für schutzsuchende Sonnengäste. Badetemperaturen ändern sich oft während des Tages: Im Sommer wird das warme Oberflächenwasser in Strandrichtung gespült, bis zu 22 Grad hat der Ozean plötzlich. Die Ostsee, oft als „Halbmeer“ diffamiert, ist mit durchschnittlich 52 Metern Tiefe tendenziell gefrieranfällig. Zu Ebbe und Flut gibt es nur Ansätze, der Salzgehalt ist außergewöhnlich niedrig. Die Inselbewohner haben für das Badevergnügen wenig übrig. Sie trinken ihre Apfelsaft-Schorle in den Kaffeehaus-Gärtchen im schnuckeligen Hauptort Burg.

Burg war seit dem 16. Jahrhundert Hauptstadt, doch am 1. Jänner 2003 wurde der gesamten Insel – also einem romantisch unurbanen Gebiet – das Stadtrecht verliehen. 13.000 Einwohner bevölkern nun eine der flächenmäßig größten Städte Deutschlands. Am Hauptplatz befindet sich neben Nicolaikirche und Rathaus eine berühmte deutsche Institution, das „Verzehrkino“ – in dem man während der Filmvorführung essen und trinken kann. Die Tresensitzer können sogar, mit dem Rücken zur Leinwand, den Film in den großflächig angebrachten Spiegeln verfolgen.

Draußen bremsen sich die Autos über das holprige Kopfsteinpflaster, ein paar Spaziergänger sitzen auf Parkbänken. Am Hauptplatz ist eine Bühne errichtet worden. Ein junger Mann mit Stromgitarre spielt „Sweet Home Alabama“ – vielleicht nur der Soundcheck, vielleicht sein großer Auftritt. Ob er es weiß oder nicht, er steht in großer Tradition – hat doch Jimi Hendrix nicht nur in Woodstock, sondern am 5. September 1970 tatsächlich am „Love and Peace Festival“ auf Fehmarn gespielt.