Ebrodelta/Katalonien

2013

Die komplementäre Ruhe

Ebrodelta und Hinterland – ein Sprung nach Katalonien, wo die Vögel dem Reis gute Nacht sagen

Katalonien? Jeder schwärmt von Barcelona, Städtereise. Vergleichsweise wenige kennen den Rest. Dabei gehört allein schon die knapp hundert Kilometer lange Costa Daurada mit ihren weitläufigen Stränden, Klippen und Dünenlandschaften zu den vielfältigsten Küsten Europas – wie der Name sagt, ist ihr Sand, naja, goldfarben. Jedenfalls gelblich. Dahinter wuchern einige jener halb ausgestorbenen Neubausiedlungen, die Spaniens Denkmäler des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts werden könnten, ebenso wie recht unberührte Küstensumpf-Ökosysteme, Marschlandschaften mit Schilfgewächsen und Binsenwiesen. Im Hinterland erheben sich Berge wie etwa der Kalkstein-Konglomerat-Naturpark Serra del Montsant im Landkreis Priorat. Seine dunkelroten Felsformationen, die wirken, als hätte ein missgelaunter Riese ins Gebirge gebissen, verführten Mönche im Mittelalter zur Einsiedelei. Habichtsadler jagen über den Himmel, Uhus sitzen im Astwerk, und im DOQ Priorat gedeihen nicht nur die Rotweintrauben für den lokalen Spitzenwein, hergestellt im erntemaschinenlosen Verfahren, sondern auch die fruchtigsten Oliven. In die Landschaft mischen sich wild wachsende Feigenbäume mit unglaublich zarten Früchten.
Doch das alles ist gar nichts gegen jenen besonderen, dreißig Kilometer langen Küstenunterbruch im Süden. Unvermittelt wird die Costa Daurada von jenem Dreieck durchstoßen, ja verdrängt, in dem die Verzweigungen des Ebro (katalanisch Riu Ebre), seines Zeichens zweitlängster Fluss der Iberischen Halbinsel, dem Ozean zufließen. Das Delta ist eine rezente Scholle. Seit 4.000 Jahren wird im Mündungsbereich Landwirtschaft betrieben, durch die Bewässerung der Felder über schmale, künstlich angelegte Kanäle lagerten sich Sedimente aus dem Gebirge ab. Unmerklich, doch mit Bestimmtheit, schob der Ebro ein Stück Kontinent nach vorne und steckt heute als ein brettflaches Triangel von 330 Quadratkilometern Fläche seine Schnauze ins Meer. Das beschert Katalonien eine quasi natürliche Landgewinnung, von der sich die künstlichen Reklamationen vom Typus Hongkong oder Monaco einiges abschauen könnten.
Heute dürfen die Besucher entlang der Bewässerungskanäle gehen, laufen, Rad fahren. Am Ende, an der „desembocadura“, der eigentlichen Mündung, steht der hölzerne Mirador de Zigurat, ein architektonisch dezent in die Landschaft gesetzter Beobachtungspunkt. Fluss und Felder wirken von dort oben betrachtet verblüffend perfekt – als wäre diese Welt von einem Designer zusammengestellt worden, der besonderes Augenmerk auf ein farblich ausgewogenes Ensemble legte.

Viel Reis, noch mehr Vögel, kaum Menschen. Die Muslime führten im 8. Jahrhundert den Reis, al-Ruzz, Arroz, ein, der bestimmt seitdem das Leben. Karg sieht das Delta im Winter aus, prall und überflutet im Frühling. Ein knallgrünes Meer entsteht im August, wenn die Reispflanzen hoch stehen. Im Ecomuseum des Hauptortes Deltebre erfährt man, dass Reis-Varietäten wie Bahia, Balilla x Sollana (Hybride von beiden), und Bomba, die beliebtesten Sorten für die Paella sind, dass aber auch Albada, Baixet, Clot, Elvo, Leda, Lida, Mareny, Marjal, Niva, Senia, Tebre, Thaibonnet, Trainato, Thaiperla und Ullal angebaut werden. Wegen des Meeresklimas im flachen Anbaugebiet freut sich das Ebrodelta über die weltweit höchsten Erträge pro Quadratmeter.
Ist der Reis Ende September abgeerntet, scheinen alle Vögel der Welt aufzutauchen – und mit ihnen kommen die Ornithologen. Denn rund ums Jahr herrschen ideale Bedingungen für Wasservögel, Zugvögel, und natürlich auch für jede Art von Flügeltieren mit Überwinterungsabsicht. Den Birdwatchers, großteils aus Großbritannien, zeigten sich dort bisher 381 der 600 europäischen Vogelarten. Neben einer Reihe von Reihern kann man den Rothals-Ziegenmelker, die Samtkopf-Grasmücke, den Rotkopfwürger oder die Kurzzehenlerche entdecken. Nein, keiner davon ist erfunden, doch die englischen Namen sind eleganter. In Poblenou del Delta, schon sehr küstennah, treibt sich sogar die eine oder andere Schleiereule herum.
Poblenou hieß bis vor kurzem Villafranco del Delta, denn einst war das Örtchen zu Ehren des Diktators Franco so benannt worden. Wanderarbeiter aus dem Süden Spaniens hatten sich hier niedergelassen, um sich beim Reisbau zu verdingen, und bis heute überwiegt der völlig unautochtone Baustil Andalusiens. In Poblenou gibt es außer einer Kirche, die wie ein übertrieben rechteckiger Baustein in den Himmel ragt, buchstäblich nichts – kaum öffentliches Leben, nur weißes und graues Gemäuer. Die Schritte hallen fremdartig laut durch die Straßen, weiter vorne schreit ein Kind, das geschlagen wird, oder war es doch die berühmte Eule? Die Bestrebungen zur Beibehaltung des Franco-Namens waren so hartnäckig, dass der topographische Geistesblitz erst im Jahr 2003 getilgt wurde. Nur der Fußballplatz heißt weiterhin hartnäckig Villafranco.

Muscleres dels Alfacs: eilig wachsende Austern. Das Städtchen am Deltarande, Sant Carles de la Rápita, 15.000 Einwohner, schmiegt sich an einen milden Hang. Es sei völlig uninteressant, heißt es. Zugegebenermaßen befinden sich hier keine ehrwürdigen Kathedralen, imposanten Türme oder Wachsfigurenkabinette ersten Ranges. Doch die vielgeschmähte Küstenstadt mit dem Flair eines allzu rasant gewachsenen Fischerdorfs, das heute von den fetten Yachten angefahren wird – man merkt es an der hellwachen Gastronomie – liegt in der Kategorie Lebensqualität im spanischen Spitzenfeld. Ihr Port dels Alfacs, der sich ausbreitet, als wolle er den Ozean umfassen, ist zudem der größte Naturhafen des Mittelmeers. Ein mondsichelförmiger Sandstreifen führt zur Reserva Natural Parcial Punta de la Banya. Flamingos leben hier, Autos sind ausgeschlossen. Die Salines de la Trinitat, wo die Muslime von Al-Andalus ab dem 12. Jahrhundert Salz abbauten, liefern heute noch 25.000 Tonnen jährlich.
Der aufstrebende Wirtschaftszweig von Sant Carles de la Rápita sind jedoch die Muschelbänke – begehbare Holzkonstruktionen mit überdachter Plattform. Die Austern lieben die Mischung aus Salz- und Süßwasser und gedeihen auf diesen Muscleras rascher als irgendwo sonst. Von den Reisfeldern weht Nahrung ins Meer, und der Bioplankton tut sein Übriges, so dass Austern hier dreimal so schnell wachsen – in einem Jahr haben die meisten von ihnen Normalgröße erreicht und werden im Sommer abgeerntet, bevor die Wassertemperatur über 28 Grad steigt. Den 64 stadtseitigen und 92 nördlichen Muscleras werden pro Jahr eine Million Kilo Austern und drei Millionen Kilo Miesmuscheln entnommen. Venusmuscheln befinden sich in der Testphase. Früher gingen neun Zehntel der Austern nach Frankreich, heute sind es nur noch zwei Drittel: das Yachtpublikum steht auf feines Abendessen.

Via Verda, Grüne Route, heißt ein einzigartiger Asphaltweg durch das Val de Zafan. Hier verlief die Bahntrasse, über die sich das katalonische und aragonesische Hinterland Zugang zu einem Hafen schaffen wollte. 1882 war Baubeginn, aber „aufgrund verschiedener Probleme“, wie die Katalanen ihren Baufortschritt elegant umschreiben, wurde die Strecke erst 1942 fertiggestellt. Sant Carles de la Rápita erreichte man niemals, aber immerhin Tortosa. Der Betrieb endete am 17. September 1973.
Die Schienen sind längst abgebaut. Bahnhöfe stehen als dreckige Ruinen, oder, noch schlimmer, als sanierte, aber zugemauerte Kulturdenkmäler in der prallen, sattgrünen Landschaft. Heute überwinden Fußgänger, Reiter und Fahrradfahrer den Höhenunterschied von knapp 400 Meter durch eines der spektakulärsten Täler Spaniens, geprägt von Wäldern und Schluchten. Die Ex-Bahn führt über zwei Viadukte und durch Dutzende schwach beleuchtete Tunnel, was die familienfreundliche Tour zu einem ziemlichen Abenteuer macht. Wer durchbrettert, hört die Knochen der Gescheiterten unter den Rädern scheppern, sieht sie aber zum Glück nicht.
Die Via führt nach Horta de San Joan. „ Tot el que sé“, sagte Pablo Picasso einst, „ho he après a Horta”. Das heißt wohl, dass er irgendwann den Eindruck hatte, alles, was er wisse, in Horta erfahren zu haben. Ob der Andalusier es tatsächlich auf Katalanisch sagte, ist zu bezweifeln. 1897/98 erholte Picasso sich hier bei der Familie seines Freundes Manuel Pallarès acht Monate lang von einer Scharlacherkrankung und bekam eine Ahnung vom nicht-urbanen Leben. 1909 kehrte er als junger Malerstar zurück, sorgte in Horta durch das Unverheiratetsein mit seiner Freundin (die Pallarès-Familie nahm das Paar gar nicht erst auf) und durch seinen auf die Landbevölkerung exzentrisch wirkenden Lebensstil mit Gönnerhaftigkeit und Trinkgeldern für Aufruhr. Er bekletterte und malte die bizarren Roques de Benet, eine Felsformation, die ihm die Idee des Kubismus nahe gebracht haben mag.
Heute ist das burgähnliche, mittelalterliche Horta mit seinen knapp 2.000 Einwohnern ein einziges Denkmal geworden, zwar auf etwas nervige Art ausgestorben, aber mit einem professionell aufbereiteten (nur Faksimiles) Picasso-Museum versehen. Ist natürlich alles nicht Städtereise Barcelona. Aber wem Gaudí und Rambla bis über die Ohren stehen, findet hier die komplementäre Ruhe.