Dominica – Guadeloupe

"Die Presse" 2008

Notfalls lebt man vom Mangobaum

Die Tourismuswerbung vergleicht die Form von Guadeloupe gerne mit einem Schmetterling. Denn eigentlich besteht Guadeloupe aus zwei Inseln, aus zwei enormen Flügeln, durch eine Landbrücke verbunden. Die Flügel sind nicht kongruent, daher schwimmt ein hübscher, aber doch schräger Schmetterling in der Karibik. Ein Stück Europäische Gemeinschaft nahe der Küste Amerikas – Guadeloupe hat endlose Strände und wolkenfangende Gipfel und ist das Paradebeispiel für eine erfolgreich in die Gegenwart gerettete Kolonie.

Genau am Ansatz beider Schmetterlingsflügel liegt die Hauptstadt Pointe-à-Pitre mit ihrer vibrierenden Shopping-Meile. Den Namen verdankt sie laut glaubwürdiger Legende einem holländischen Geschäftsmann namens Peter, der dort einst seinen Stand eröffnete: Fischsemmeln. Heute gruppiert sich die französische Kleinstadt um eine Place de la Victoire, der neben Rumvariationen und Gewürzen in Flaschen Grenadine, Magenbitter oder Vanielleessenz anbietet, vor allem für die Kreuzfahrtsgäste, die legitimen Nachfolger von Piraten – sehr lange her – und Matrosen – auch schon geraume Zeit vergangen.

Relikt der alten Zeit, und vor dem sorgenfreien Tagesbesucher verborgen, ist das Rotlichtviertel Carenage mit original hölzernen Kolonialhäusern. Zur Durchquerung des Werftdistrikts verwenden selbst Einheimische Bus und Auto – man spricht von Drogen und Prostituierten, doch niemand weiß es so genau, weil lange keiner mehr dort war. Doch wer den Nervenkitzel nicht explizit sucht, wird verruchte Orte auf Guadeloupe ebenso wenig finden wie Piraterie. Letztlich ist ja auch nicht Pointe-à-Pitre die Hauptattraktion der Insel, sondern der atemberaubende Wechsel zwischen Bergen und Küsten, das frische Croissant, der starke Rum-Punsch.

Der rechte Flügel des Schmetterlings, namens Grande Terre, ist paradoxerweise der kleinere, flachere Teil des Landes. Den Inselteil aus Kreidegestein umrundet man bequem in einem Tag. Vorbei an Südküsten-Städtchen wie Saint-Anne und Saint-Francois mit ihrer Partystimmung, zum „Pointe des Châteaux“ im Osten, was für ein Ausblick! Auch Kolibripunkt genannt, bietet er schroffe Klippen und ein Betonkreuz. Vom nördlichsten Punkt der Insel, charakteristischer Weise der Pointe de la Grande Vigie, sieht man an klaren Tagen bis Antigua und Montserrat. An seinem Fuß schenkt ein Erfrischungs-Ständchen hervorragendes Kokossorbet und bewirbt seine eigene Qualität mit der lapidaren Erwähnung seiner Erwähnung in „Michelin, Lonely, Geo, Evasion, Routard“. Auf dem Friedhof von Morne d´Eau wird hingegen die Badewannenästhetik der guadeloupischen Gräber auf die Spitze getrieben – angesichts der beeindruckend bunten Fließenstadt sieht jeder ein, nirgends auf der Welt erinnert Begrabensein so stark an Chlorgeruch wie hier.

Der linke Flügel des Schmetterlings, Basse Terre, ist der größere, höhere, schroffere. Dem 1467 Meter hohen Vulkan La Soufrière hängen fast immer Wolken ins Gesicht. Er gilt als erloschen, in der Berglandschaft riecht es trotzdem nach Schwefel. Küstwärts, von der Kolonialstadt Basse-Terre weg, erstrecken sich Traumstrände: der wilde schwarze bei Vieux-Fort, aber vor allem der beinahe orangefarbene Plage de Grande Anse im Norden, an dessen letztem Spitz ein Hotel namens Taíno´s atemberaubend balinesische zweistöckige Holz-Bungalows in die Landschaft gestellt hat. Das Wort „Taíno“ gemahnt an das gleichnamige ausgestorbene Volk alias die Erfinder der Hängematte. Kolumbus schrieb einst, die Taínos seien „von einer solchen Freigiebigkeit mit dem, was sie haben, dass niemand es glauben würde, der es nicht gesehen hat.“

 

1493, auf seiner zweiten Amerikareise, landete Kolumbus in Basse Terre, doch er blieb nur kurz: die Kariben, nicht so freunlich wie Taínos, leisteten den stärksten Widerstand. Erst 1635 wurde Guadeloupe französisch. Die letzten freien Einheimischen traten den Weg auf die sagenumwobene Nachbarinsel Dominica an, deren dichter Dschungel Rückzugsmöglichkeiten bot. Und das kleine Dominica (75.000 Einwohner) befindet sich heute tatsächlich fast noch im Urzustand. Von Guadeloupe per Fähre in zweieinhalb Stunden erreichbar, bietet Dominica die Karibik so, wie sie früher war: wilde, schwarzsandige Küsten, undurchdringlicher Regenwald, durchflossen von 365 Flüssen. Prächtig, ungekämmt, vulkanisch – deshalb werden ja auch hier die diversen Johnny-Depp-Piratenfilme gedreht.

Dominicas  „Carib Territory“ – auf romantischen, gegen den Ozean hin gelegenen Abhängen – ist das letzte Gebiet der gesamten Karibik mit Urbevölkerung. Von den 300.000 Karibikindianern des 15. Jahrhunderts wohnen die letzten paar Hundert im Territorium, organisiert unter einem lokalen Chief. „Wai´tukubuli“ hieß die Insel vor der Kolonialisierung, was soviel wie „groß ist ihre Gestalt“ bedeuten soll, und manche sehnen sich heute – um der unseligen Verwechslung mit der Dominikanischen Republik zu entgehen – nach einer Rückbenennung der 750 Quadratkilometer großen Insel, „aber der historische Name ist zu lang“, erklärt Celia Frederick, 74, die gemeinsam am Straßenrand Cassava-Fladen verkauft, wohlschmeckendes, nahrhaftes Brot mit Kokosgeschmack, aus Maniokmehl, wie es schon die Vorfahren ihrer Vorfahren aßen.

„Unsere Carib-Sprache ist längst verschwunden“, sagt Celia Frederick, „mein Vater kannte noch jemanden, der sie sprach. Aber heute spricht das, glaube ich, auf der Welt kein Mensch mehr.“ Celia ist über diese Welt informiert, drei ihrer Kinder leben im Ausland. „Ich habe 5 Jungen und 5 Mädchen, insgesamt also 10. Inzwischen nur noch neun. Denn mein Sohn hat sich in Puerto Rico Asthma geholt und starb voriges Jahr – stellen Sie sich vor, mit vierzig!“ Weiters hat sie 36 Enkeln und vier Urenkel. „Mir ist lieber, sie bleiben in der Nähe. Aber Sie wissen ja, wie Kinder sind – jeder möchte was eigenes aufbauen.“ Nach dem Tod ihres Mannes entfacht jetzt ihr „boyfriend“ das Feuer unter den Cassava-Fladen, „ich selbst darf nicht mehr so nahe zur Hitze“, sagt sie und gibt ihm einen kurzen Befehl auf Kreolisch, „der Arzt sagt, es schadet mir.“

 

Dominica, einst britische Kolonie, seit 1978 eigenständige Republik, hat zwei Küsten: die raue, dem Atlantik zugewandte, und die ruhige Westküste, an der sowohl die kleine Hauptstadt Roseau liegt als auch das Städtchen Portsmouth (Aussprache ein bisschen französisch!), mit den Ruinen eines Fort Shirley und seiner internationalen Medizin-Uni. Die großen Zeiten der Bananenplantagen sind seit der EU-Einfuhrbeschränkung vorüber, Dominica versucht sich auf sanften Tourismus zu spezialisieren.

Die Tagesgäste von den Kreuzfahrtsschiffen bringen nicht viel, aber es spricht sich immer weiter herum, dass Dominica, die „Nature Island“, doppeltes Potential hat: Trekking und Tauchen. In wenigen Stunden erreicht man zauberhafte Orte wie den „Boiling Lake“, zweitgrößter Kochender See der Welt oder Wasserfälle wie der „Emerald Pool“. Das alles in einer unwahrscheinlich grünen Landschaft, durchströmt von klaren Gewässern, in denen auch „River tubing“ auf Autoreifen betrieben wird. „Wir haben hier alles, was wir brauchen“, sagt Merlin, „und notfalls können wir vom Mangobaum leben.“ Es ist kein Wunder, dass in Dominica die ältesten Menschen der Welt wohnen – nirgends weltweit ist der prozentuelle Anteil an Hundertjährigen so hoch wie hier. Durch das wunderbar frische, selten zu heiße Klima kommt es auch zu einem außergewöhnlichen Wetterphänomen: vor allem vor der Küste von Portsmouth bilden sich oft mehrere Regenbogen gleichzeitig.

Jüngst haben Pläne Venezuelas, seinen Einfluss in der Region durch den Bau einer Ölraffinierie zu erweitern, Staub aufgewirbelt. In kleinen Inselstaaten sind Projekte, die Arbeitsplätze garantieren, existentiell. „Die sollen die Pläne endlich auf den Tisch legen“, sagt der Transportunternehmer Merlin, „wir sind nicht gegen Neuerungen, aber da muss man knallhart fragen, wie viele Arbeitsplätze auf wie viele Jahre gesichert würden, und ob es nicht nachhaltiger ist, in den Tourismus zu investieren.“