Bristol

Martin Amanshauser

2013

Schiffe, Brücken und Winterbäder

 

Die vergessenste unter den britischen Städten, weitab, einzelgängerisch, aber charmant: Bristol im Herbst.

Ein romantischer Lokalflughafen in einer hügeligen Landschaft aus Bäumen und Wiesen, der einen Airportbus namens „Flyer“ betreibt – durchaus logisch, dass einen beim Verlassen des Flughafengebäudes der Chauffeur, eigentlich im gemütlichen Gespräch mit einem Kollegen, anspricht: „Can I help you, my friend?“ Neben dem Essig auf den Pommes Frites gehört Freundlichkeit im ruralen United Kingdom zum Standard. Niemand würde auf die Idee kommen, dass in einer Fahrdistanz von zwanzig Minuten Bristol liegt, mit einer knappen halben Million Einwohner achtgrößte Stadt des Landes. Die ersten Pubs auf der Landstraße klingen auch noch nicht besonders urban, „Wagon and Horses“ heißt eines. Irgendwann wächst dann eine britische Stadt an den Straßenseiten hoch, und plötzlich erscheint die Harbourside von Bristol, lebendig, quirlig und sehr britisch.
Doch Vorsicht! Man versteht in Bristol nicht alles, was die Leute sagen, denn sie sagen es auf „Brizzle“. Klingt cool, weil sie alles so aussprechen, wie man es eigentlich immer selbst tun wollte. Es ist nicht alleine der berüchtigte A-i-Laut, der mehr oder weniger ausgeprägt den ganzen Süden durchzieht (z.B. saith für south). Zu „she does it“ sagen sie „she do´s it”, oder sie verwenden “hisself” statt “himself”. Dazu kommt eine bizarre Beziehung zu dem Buchstaben L. Das Bristoler L kann plötzlich mitten in L-losen Wörtern auftauchen (drawling für drawing), oder sie verzichten vällig auf es („funera“ für „funeral“) – ein poetisches, wenngleich schwer durchschaubares Spiel, so als würden die Bristoler ihr eigenes Scrabble benötigen. Wenn sie sich verabschieden, rufen sie übrigens gerne: „Laters!“

Bristol ist steil. Als Schiffbauzentrum, Hafenstadt und Sklavenstadt, abgewandt vom hochmütigen London, geradewegs auf das arme Irland blickend, war es wohl Bristols Schicksal, die große Unbekannte unter den britischen Städten zu bleiben. Früher war sie sogar eine Grafschaft für sich, 1975 formierte die Politik gegen lokale Widerstände den Stadtstaat, gemeinsam mit anderen Gebieten, zur Grafschaft Avon um. Doch fragen Sie einmal Engländer – Avon? „War ich nie.“ Bristol? „Auch nicht.“ Keiner war je dort. Es fällt leicht, Bristol zu übersehen. Weitab von allem, eignet es sich geographisch bestenfalls als Tor zu Wales. Touristen kommen meist wegen Kongressen, wohnen in Konfektionshotels. Schade! Denn wer einmal einen Fuß in Bristols Straßen setzt, wird einen längeren Aufenthalt in Betracht ziehen. Von der Harbourside ranken sich die Häuser hügelan, am College Green steht die Kathedrale der ungeteilten Dreifaltigkeit. Steil bergauf führt die Park Street, und wer die Fassaden betrachtet, sieht auf einer Feuermauer einen Original Banksy. Das ist jener Schablonengraffiti-Künstler, der seine Identität verbirgt. Das Bild heißt „well hung lover“ und zeigt einen Nackten, der sich an ein Fensterbrett klammert. Im Fenster steht eine leicht bekleidete Frau hinter ihrem wütenden Ehemann, der nach dem geflüchteten Nebenbuhler Ausschau hält. Jemand hat das Graffito mit blauen Farbbeuteln beworfen. Banksy-Kunst provoziert.

Bristol ist eigenartig. Dazu passt, dass die Stadt im Vorjahr eine eigene Währung in Umlauf brachte, den Bristol Pound (sprich „Pa-ind“). Diese Alternativwährung zum Ankurbeln der lokalen Wirtschaft gilt in über hundert lokalen Shops. Der schillernde Bürgermeister George Ferguson, ein Liberaler, der nur rote Hosen trägt, lässt sich zum Beispiel sein Gehalt in Bristol Pound auszahlen. Die Kaufkraft bleibt so in der Region, bei einer Pfundskrise macht man mit dem lokalen Geld weiter. Außerhalb der Stadtgrenzen sinkt der Wert der hübschen Scheine allerdings auf Null. Ferguson ist eine singuläre Figur: Er machte sich als Architekt einen Namen und rettete das Hauptgebäude von Wills Tobacco, einst eine der größten Zigarettenfabriken Europas, in dem die „Tobacco Factory“ entstand, ein Zusammenschluss unabhängiger Läden mit Theater („Tobacco Factory Theatre“). Der Bürgermeister wohnt selbst im obersten Stock.

Bristol ist Ingenieurskunst. Die Wahrzeichen liegen unten und oben, im Wasser und auf der Anhöhe, und beide wurden von Isambard Kingdom Brunel (1806-1859) konstruiert – die Hängebrücke von Clifton und der Luxusliner SS Great Britain. Dieses Dampfschiff aus 1845 wurde im Floating Harbour gebaut, wo es heute als Museumsschiff im Dock steht. Bei der ersten Atlantiküberquerung zugelassen für 120 Personen in der 1. und 135 Personen in der 2. Klasse, markierte die SS Great Britain einen Höhepunkt der Luxuspassagierschifffahrt. Im folgenden Jahr lief sie auf eine Sandbank, die Reederei bankrottierte, sie tingelte fortan als Kriegstransportschiff und Emigrantenschiff über die Weltmeere. Später wurde der Motor ausgebaut und sie diente vor ihrer Rückführung (1970) auf den Falklandinseln als antriebsloser Kohlenlager-Hulk. Als Exponat zeugt ihr wiederhergestellter Ursprungszustand von einem Luxus, den wir heute nicht mehr als solchen empfinden: Die Stockbetten der 2. Klasse sind so schmal, dass man nicht am Rücken, nur auf der Seite liegen kann. Das industrielle 19. Jahrhundert machte auch aus Wohlhabenden Ölsardinen. Ingenieure wie Brunel bauten engmaschig, stickig, aber gediegen und elegant.
Die Clifton Suspension Bridge hingegen, eine Kettenbrücke über die furchterregende Schlucht des Flusses Avon, schwebt 75 Meter über dem Wasser. Sie war der erste große Auftrag des damals 24-jährigen Brunel, der auf ägyptisierenden Stil setzte: Türmchen mit Sphinxköpfen. Die Bauzeit (1831-64) betrug über dreißig Jahre – währenddessen war der Ingenieur verstorben –  am Ende setzte man doch auf britischen Stil, vermischt mit Elementen aus Raumschiff Enterprise. Sieht jedenfalls so aus. 1885 überlebte die 22-jährige liebeskummerkranke Sarah Ann Henley den Sprung von der Brücke, weil ihre Röcke sie fallschirmartig bremsten – heißt es. Sie landete im Schlamm des Avon und starb erst 1948. Überregionale Beachtung erhielt die Clifton Suspension Bridge nämlich durch ihre Selbstmörderquote, die erst zurückging, als vor zwanzig Jahren Sicherungen geschaffen wurden, wonach sich die Lebensmüden lieber woanders umbrachten. Heute prangen Schilder mit Telefonnummern des lokalen sozialtherapeutisches Zentrums am Brückenkopf. Die Überquerung ist seit Eröffnung mautpflichtig, heute 50p pro Auto, Fußgänger frei. Während des jährlichen Ballonfestivals und des Musikfestival Ashton Court wird sie seit 2003 ganz geschlossen, um Überbelastung zu vermeiden.

Bristol im Herbst. An der Westseite der auffälligen Brücke beginnen die wunderbaren „Downs“, Grünflächen mit Rehgehegen und Mountain-Bike-Routen. Wer möchte in London wohnen – fragen Bristols Bewohner rhetorisch – wenn die Großstadt so naturnahe sein kann? Wer den britischen Herbst beobachten möchte, kann das im „National Arboretum“ in Westonbirt (Gloucestershire) tun, wo über 18.000 Bäume auf einer Fläche von 2,4 Quadratkilometern stehen, nur 25 Kilometer nordöstlich von Bristol. Die vielfarbige Show heißt zur Zeit ganz offiziell „Autumn Colour“. Urbaner geht es auf der anderen Seite der Brücke zu, im Lifestyle-Zentrum Clifton Village. Dieser hochgelegene Stadtteil, ewig schon gentrifiziert und sauteuer, ist nicht nur bekannt für den fünftältesten Zoo der Welt, sondern auch für seine georgianischen Mustergebäude, in deren Unterstockwerken Teehäuser, Vintage-Läden und Ciderbars hausen. Cider ist die Spezialität des Südwestens, „wir bilden uns ein, etwas davon zu verstehen“, so drückt es das lokale Understatement aus. Der naturtrübe Cider heißt „scrumpy“. Bei Bristol City, dem lokalen Fußballverein, wird der Song „Drink Up Thy Zider“ nach Heimsiegen vom ganzen Stadion gegrölt. Die „Robins“ (so der Nickname), 1907 immerhin englischer Vizemeister, spielen aktuell nur in der 3. Liga. Ein Grund mehr für einen Ciderrausch.

Bristol ist ägyptisch. Viele halten das Clifton Lido für das schönste Bad der Insel. 1849/50 in „ägyptischem Stil“ gebaut, ein prächtiges Fliesenbecken, unüberdacht und doch ins Häusermeer geschmiegt, weht der Hauch des vorletzten Jahrhunderts durch den Ort. Wasserscheue und Voyeure müssen nicht ins Pool, sie beobachten die Schwimmenden vom Restaurant aus, zu jeder Jahreszeit. Im Winter wird behutsam geheizt, um das Wasser auf Seetemperatur zu halten, und im Sommer bleibt das Clifton Lido angenehm kühl. Dabei schien das Prunkbad schon verloren: in den späten Achtziger Jahren hatten sich Lecks gebildet, es musste schließen. Ende der Neunziger planten Investoren, an der Location Wohnhäuser zu bauen, der Abriss stand bevor. Eine Nachbarschaftskampagne rettete die Ruine, doch erst vor fünf Jahren gelang es dem Käufer, der „Glass Boat Company“, das Renovierungskonzept durchzusetzen. Wenn man aus dieser unwirklichen Welt ins Freie tritt, auf die schmalen Straßen von Clifton Village, würde es einen nicht wundern, wenn irgendwo an der Ecke ein junger Banksy steht und lossprayt. Also erheben wir unser Glas, „Drink up Thy Zider“, und, „Laters, Bristol!“