Berlin – Deutschland

„Der Standard“, 14. Juli 2005

Auf dem Floß im Club der Visionäre

Früher oder später spricht jeder Berliner es an. Ob man das schon wisse? Berlin habe mehr Brücken als Venedig, Berlin gehöre sowohl zu den grünsten als auch zu den wasserreichsten Städten der Welt, und außerdem ... Ja, außerdem besitze Berlin die feinsten Sandstrände.

Diese Aussagen treffen allesamt zu, seit die Stadtstrände an der Spree boomen. Der Klassiker heißt „Bundespressestrand“ und bietet 600 Tonnen Ostsee-Sand auf einer Fläche von 3.000 m2. Seine diesjährige Location, ohne Blick aufs Wasser, dafür aufs Bundeskanzleramt und zwei Kinderpools, tut seiner Popularität keinen Abbruch, es heißt, dass die alleroberste Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Society ununterbrochen am Bundespressestrand „abhängt“.

Entlang der Spree herrschen Idealbedingungen: Berlin-Mitte mit seinem Mix aus Industriebauten und Großprojekten ist noch lange nicht „fertig gebaut“. Und um einen Strand zu eröffnen, braucht man wenig: ein paar Tonnen Sand, Liegestühle, einen Bar-Container, Kontakt zur Stadtverwaltung. Bisher sind dreißig innerstädtische Partyflächen entstanden. Erste ihrer Art war 2002 die „Strandbar Mitte“, legendärster Strand ist „King Kameamea“, mit Lagerfeuer und 15-Euro-Zeltmiete. Nach einem Relaunch heißt er dieses Jahr „Kiki würfelt“ und widmet sich der James-Bond-Romantik.

Wirklich baden kann man im „Badeschiff“ in Treptow. Es ist kein Flussbad, denn „das Springen in die Spree ist“, laut Hausordnung, „verboten, und ist auch nicht zu empfehlen“, aber ebenso wenig ein Schiff – sondern eine direkt in den Fluss getauchte Riesenbadewanne mit türkisem Boden. Das Publikum ist jung und urban, und beim Eingang werden die Taschen untersucht – die Stadtstrände verordnen Getränkemonopol, um Cocktails zu verkaufen. Wenn Deutsche „Caipirinha“ sagen, klingt das unnachahmlich unlässig, und dass sie sich dieser Problematik bewusst sind, ist ihnen zu Gute zu halten. Um das Modegetränk mit angemessenem Gesichtsausdruck ordern zu können, verkürzen sie auf „Caipi“. Selbstverständlich unterliegt „Caipi“, wie „E-Mail“ und „SMS“, der deutschen Verweiblichungstendenz, trägt also stolz den femininen Artikel.

Der „Oststrand“ bei der East Side Gallery bietet den Besuchern Blick auf das letzte lange Stück Berliner Hinterlandmauer – hier wird Ende Juli die Völkerball-Meisterschaft stattfinden: „Italiener gegen Schwaben, Neuköllner gegen Apachen, Kreuzberger gegen Friedrichshainer“, verspricht der Anmeldebogen, „gründet euer eigenes Volk; acht Spieler, davon mindestens vier Mädchen, bilden ein Team.“ Der Oststrand geht in seinen letzten Sommer, nächstes Jahr wird alles umgewälzt – wie überall, Berlin befindet sich in seiner historischen Sanierungsphase. Die weitläufigen, zu DDR-Zeiten ungenützten Räume in Stadtmitte werden neu definiert – wie manche beklagen, ohne Gesamtkonzept.

Mit Steuererleichterungen animiert Berlin Hausbesitzer zu Investitionen. Den Prenzlauer Berg, ehemaliges Arbeiterviertel Ostberlins, knapp nach der Wende wildes Neuland, haben mittlerweile 75% der Bevölkerung von 1990 verlassen. Die Wissenschaftlerin Daniela Dahn, Verfasserin des Klassikers „Prenzlauer Berg-Tour“, spricht sogar von „Vertreibung“. Das Leben am Prenzlauer Berg ist indes relaxed, die Fahrräder rollen langsam bei rotem Ampellicht über die Kreuzungen, der überwiegende Rhythmus ist nicht nur im Sommer das Schritttempo. Nicht mehr die Jugendkultur herrscht am Prenzlauer Berg, sondern eine neue, nicht ungemütliche Biederkeit.

Der Prenzlauer Berg ist heute Europas städtischer Mikrobereich mit der höchsten Geburtenrate, die Anwohner haben rund um den Kollwitzplatz ihre Bio-Läden, Designershops und Kinderkrippen errichtet. Berlin wird eher Bad Reichenhall als Chicago, man hört Schwäbisch, Sächsisch, Bayrisch, die „westdeutschen Einwanderer“ nehmen ihr Kristallweizen und ihre Mojitos in Designerlokalen namens „Frida Kahlo“ zu sich, mit Kerzchen am Tisch. Schon regt sich Widerstand an den Toilettenwänden: „Ausländer rein – Rheinländer raus“, jede Kultur entwickelt ihre Stereotypen. Die Szene ist unterdessen teilweise abgewandert, in die unsanierten Teile Friedrichshains, oder zurück nach Kreuzberg.

Wer Berlin liebt, muss sich damit abfinden, dass die besten Orte unschick sind: der neue und dennoch abgehalfterte Mauerpark, die Schönhauser Allee mit der S-Bahn unten und der U-Bahn oben – oder der wunderschöne Berliner Prater, kein Jahrmarkt, sondern ein Biergarten. Hier tranken schon zu DDR-Zeiten bis zu tausend Gäste die „Berliner Weiße mit Schuss“, ein mit Weinmeister grün gefärbtes Leichtbier von hoher Säurestufe, deren Anblick einen in Science-Fiction-Laune versetzt.

Am unteren Ende der Kastanienallee befindet sich der Volkspark am Weinberg, eine leicht abschüssige Liegewiese mit Wasserrosen-Teich. Ein Planschbecken versammelt Eltern, Kinder und Straßenmusiker, die ihre Melodien dem minderjährigen Publikum anpassen. Möglichst davon entfernt liegen Studenten von Humboldtuniversität und Charité auf Picknickmatten, vor sich frisches Bier aus dem Schweizer Spezialitätenlokal des Parks und Pasteis de Nata aus der Pastelaria Portuguesa. Die Stimmung ist lässig, die Drogen sind billig, ein Bärtiger mit nacktem Oberkörper hat sein Cello in die Wiese gesteckt und schmettert Opernarien zu jaulenden Tonfolgen.

Bewohner von Prenzlauer Berg meiden die Strände in Mitte und Kreuzberg. Wollen sie baden, bietet sich das klapprige Strandbad am „Weißen See“ an, im Stadtteil Weißensee. Und wer weder Kindergeschrei uncool findet noch Türkisch als zweite Amtssprache scheut, besucht das Schwimmbad im Volkspark Humboldthain. Darüber thront der Flakturm auf der Humboldthöhe (85 Meter), wo man durch Gitterstäbe betrachtet, wie Berlins Norden und Osten aus dem üppigen Sommergrün herauswuchert. Der Blick reicht bis zum Schäfersee in Reinickendorf, wo Badeverbot herrscht, was ihn aber keineswegs von nächtlichen Schwimmaktionen unbraver Mitbürger schützt.

Dass man in der Spree nicht badet, hat sich auch nicht überall herumgesprochen. An der Halbinsel Stralau, einst DDR-Industriegebiet, hüpfen Mutige gegenüber der ehemaligen „Insel der Jugend“ in den schaumigen Fluss. Wer den Dreck nicht scheut, kann Inseln namens „Liebesinsel“ und „Kratzbruch“ anschwimmen. Auf der Stralauer Halbinsel erinnert ein Denkmal an Karl Marx, der als Student Ruhe und Muße suchte, zur Entwicklung seiner Theorie. Fraglich, ob er sie fand: wo heute der „Erholungsgarten Kowalke“ vorherrscht, standen im 19. Jahrhundert Bierlokale.

Am Flutgraben, einem Kanal in Kreuzberg, befindet sich der „Club der Visionäre“, die Besucher sitzen auf hölzernen Flößen in den Abend hinein. Die Plattformen schwanken, weil immer gerade jemand Bier holt. Abends werden Fackeln angezündet, Kanus tauchen aus der Dunkelheit auf und in sie zurück, hechelnde Hunde machen Geschlechtsverkehr, und ein Blick auf die andere Seite des Kanals, zum Lokal „Freischwimmer“, wo Tische und Stühle überwiegen, verführt einen Gast zur philosophischen Aussage: „Dort drüben sind die Alten, und wir sind die Jungen.“ Und in zauberhaften Momenten, gegen Mitternacht hin, riechen die Spreegewässer tatsächlich nach Venedig.

Ortswechsel zum Höhepunkt des Westens: Das „Strandbad Wannsee“ ist auch bekannt als der Lido Berlins. Weiße Strandkörbe auf 1 km Länge, Blick auf Spielzeug-Segelschiffe. Bis zu 30.000 Gäste erleben hier den schönsten Sonnenuntergang der Stadt. Der Wannsee ist Teil des Erholungsgebiets „Grunewald“, einem prägenden Ort für Westberliner. Kein abfälliges Wort durfte in Mauerzeiten verloren werden über Grunewald und Wannsee oder, wie man gerne sagte, „das Havelmeer“. Die Definition als „schönstes Ausflugsgebiet“ war unerschütterlich, war es doch schlichtweg das einzige. Einen Hauch des verlorenen West-Feelings erlebt man allerdings nur beim Baden in der Havel weiter nördlich – in Gatow, dem kleinsten Stadtteil Berlins, auf den angenehm unauffälligen, frei zugänglichen Wiesen namens „Kleine Badewiese“ und „Große Badewiese“.



Bundespressestrand, Ecke Kapelleufer und Unterbaumstraße, Berlin-Mitte. Oststrand, Mühlenstraße 24-26, www.oststrand.de. Bewerbungen für die Völkerball-Meisterschaft unter voelkerball@oststrand.de. Strandbar Mitte, Monbijoustraße 3. Badeschiff, Eichenstraße 4, direkt hinter der Arena Berlin, www.badeschiff.de. Freischwimmer, Vor dem Schlesischen Tor 2A. Club der Visionäre, Am Flutgraben 1. Galão - Pastelaria Portuguesa, Weinbergsweg 8, U-Bahn Rosenthaler Platz. Schwimmbad im Volkspark Humboldthain, S-Bahn Humboldthain. Berliner Prater, Kastanienallee 7-9, Prenzlauer Berg. Strandbad Wannsee, Wannseebadweg 25, Zehlendorf. Kleine Badewiese und Große Badewiese an der Havel, Gatow.