Bangkok-Thailand - Singapur

„Der Standard“, 2. April 2004


Teakholz und Sapagettee

Wer Bangkok auf dem Schienenweg verlässt, der bemerkt bald, dass die Vorstädte der südostasiatischen Metropole ebenso weitläufig sind wie ihr ausgeschriebener Name “Krumthepmahanakhon Amonrattanakosin Mahintharayutthaya Mahadilokphop Noppharatratchathani Buriromudomudomratchaniwetmahasathan Amonphiman-Awatansathit Sakkathattiyawitsanumamprasit” Natürlich hält selbst der gelernte Thai die volle Bezeichnung seiner Hauptstadt im Kopf nicht aus, deshalb verkürzt er auf “Krung Thep” (“Stadt der Engel”) oder gleich auf BKK.

Die Engelsstadt ist in jeder Hinsicht riesig. Ihre Vororte entlang des Gleiskörpers bestehen aus Blechhütten, vierstöckigen Wohnblöcken, aus Bahnhäuschen und Schranken, hinter denen mindestens dreißig Motorräder warten. Erst nach einer Stunde geht das urbane Gelände in ein Dickicht aus Tropengrün über, durch das sich wie eine gefräßige Schlange ein Zug mit 22 Waggons voranschiebt: der Eastern & Oriental Express (E&O).

Der einzige Luxuszug Südostasiens bahnt sich seinen 2.030 Kilometer langen Weg von Bangkok südwärts, durch den ungezähmten malaysischen Westen über Kuala Lumpur bis Singapur. 132 Passagiere finden in den Pullman-, State- und Presidential-Suite-Kabinen Platz, dazwischen rollen zwei Barwaggons mit Pianisten, in den beiden Speisewägen wird europäisch-asiatische Fusion-Küche präsentiert. Das Publikum genießt den Eisenbahnkomfort aus zwei Epochen – historische Einrichtung, moderne Technik. Es ist bunt gemischt, die spanischsprachige Zahnarztfamilie aus Florida, das Kamerateam aus Monte Carlo, aber auch das nette Wiener Ehepaar, das vor fünfzig Jahren durch Südostasien getrampt ist und es nun ruhiger angeht.

Auf dem “Oberservation Deck”, einem nach drei Seiten hin offenen Bereich am Zugende, trifft man Jeff Crutchley, einen feschen, sommersprossigen Mittfünfziger.

“Nennen Sie mich Crutch aus Brighton”, er hält den Kopf in den warmen Fahrtwind, “oder meinetwegen Old Crutch.”

Crutch lebt seit zwanzig Jahren in Bangkok, und er ist einer der wenigen Expats, die diese Reise buchen.

“Meine britische Freundin liebt die Eisenbahn... Aurelia besucht mich jeden Februar, und dann nehmen wir den E&O, einfach zur Entspannung. Wer in Bangkok ist, hat ja sonst kaum Gründe, nach Singapur zu reisen.”

“Wieso?”

“Außer ein paar Prada- und Gucci-Filialen hat Singapur nichts zu bieten, was es in Bangkok nicht längst gäbe. Wer die zwei Nächte und drei Tage in diesem Zug verbringt, für den muss der Weg das Ziel sein.”

Erster Aufenthalt auf diesem Weg: Kanchanaburi, wo der Kwai Noi und der Kwai Yai zusammenfließen. Hier steht ganz friedlich die Brücke über den River Kwai. Der E&O macht einen zweistündigen Stop für eine Floßfahrt und einen Museumsbesuch im “Railway Death Museum”. Die japanische Besatzungsmacht hatte in den letzten Kriegsjahren die 415 Kilometer der Thailand-Burma-Railway mit Hilfe alliierter Zwangsarbeiter erbauen lassen; 16.000 Holländer, Amerikaner und Briten, aber auch 100.000 Zivilisten, vor allem Burmesen, büßten bei dem Wahnsinnsprojekt ihr Leben ein.

Beim Dinner, zurück im E&O, sitzt man Old Crutch und Aurelia gegenüber. Sie ist 40, zart und hübsch, sie zündet sich eine B&H an. Die Ingwersuppe schmeckt fantastisch und die Kellner stellen Fragen wie “Would you care for another beer?” Aurelia nickt.

Die Sonne ist längst im Dschungel versunken, doch die Kinder laufen noch immer die Gleise entlang. Sie strecken grinsend den sogenannten “Beater” in die Höhe. Dieser Plastik-Badmintonschläger, der unter leichter Spannung steht, ist in Thailand der Renner der Saison. In seinem Netz verbrennen die allgegenwärtigen Insekten mit einem fiesen Zischen. Die Familien in ihren Vorgärten halten im Abendmahl inne, wenn der E&O vorbeirattert, sie winken fröhlich.

“Nur keine Illusionen”, kommentiert Old Crutch, “die Leute da draußen lachen uns aus. Jeder hier kennt schnellere und billigere Arten, von Bangkok nach Singapur zu reisen.”

“Wir Zugliebhaber sind ja total abgehoben”, sagt Aurelia etwas resigniert, und man weiß nicht, wie ernst sie das meint.

“Auch nicht weiter von der asiatischen Realität entfernt”, hält ihr Begleiter dagegen, “als die Backpacker mit ihrem Lonely-Planet-Führer, die sich in der Bangkok zu Dumpingpreisen Dreadlocks in die Haare binden lassen.”

“Du bist schon zu lange in Asien, Old Crutch”, sagt Aurelia, nimmt einen großen Schluck Bier und streckt dem Kellner ihre kleine Minolta hin. “Machen Sie doch bitte eine Aufnahme!”

“Sehr richtig, Liebling.” Old Crutch wendet sich an mich. “Dass du zu lange in Thailand bist, erkennst du an Kleinigkeiten. Zum Beispiel fotografierst du bei jedem Dinner, und am nächsten Tag zeigst du die Bilder überall herum. Und jedes Mal, wenn du geknipst hast, machst du das Peace-Zeichen.”

“Old Crutch ist heute geschwätzig”, lächelt Aurelia und macht das Peace-Zeichen. “Erzähl unserem jungen Freund lieber von der kolonialen Pracht des alten Malaysia.”

Am nächsten Morgen macht der E&O Station in Butterworth. Von hier nehmen die Passagiere ein Schiff auf die Insel Penang, in die Hauptstadt Georgetown mit ihren chinesischen Klanhäusern, britischen Fassaden und malaysische Trishaws, wie man die lokale Rikscha-Variante nennt. Hier auf der Farquhar Street steht auch das legendäre Kolonialhotel “Eastern & Oriental” aus dem Jahr 1884, das steinerne Pendant zum Luxuszug.

Der Afternoon Tea wird in der Kabine des E&O eingenommen. Man lehnt sich zurück und genießt den Anblick der Bananenstauden, die hinter den Scheiben vorbeigleiten. Die Vertäfelung des Abteils ist aus Teakholz, die Lämpchen haben Goldquasten, dennoch handelt es sich um keinen historischen Zug. Kürzlich wurde 10-jähriges Jubiläum gefeiert. Nach der erfolgreichen Neueröffnung des Venice-Simplon-Orient-Express in Europa expandierte die ehrwürdige Marke, angeregt vom Film “Shanghai Express” mit Marlene Dietrich, nach Südostasien.

“Diese Waggons fuhren früher als Silver Star durch Neuseeland”, erzählt Aurelia, die man auf dem Weg in den Speisewagen trifft. “Sie wurden 1972 bei Nippon Sharyo & Hitachi gebaut, leider mit ungesunder Asbestverkleidung. Die riss man in den Neunzigern raus, und der E&O verband als allererster Zug das malaysische und thailändische Bahnnetz.”

Aurelia zieht an ihrer Zigarette, die vielleicht ebenso ungesund ist wie Asbest. Sie lächelt, und der E&O taucht in die malaysische Nacht.

Am nächsten Morgen schlägt einem am Observation Deck eine neue Luft entgegen, feucht, dampfend, klebrig.

“1869 hat der Sultan von Johore die erste malaysische Eisenbahn gebaut”, erzählt Old Crutch im Barwaggon, “sie war ganz aus Holz und die Ameisen fraßen sie auf. Erst dreißig Jahre später wurden KL und Penang verbunden.”

“KL?”

“Kuala Lumpur. Sagen hier alle. Wir kürzen gerne ab.”

“Crutch sagt wir, er ist schon ein echter Thaiboy”, lächelt Aurelia, “sein Lieblingsessen ist mittlerweile Sapagettee, er lebt längst in einem Aparmen, und immer öfter nimmt er keinen Lunch ein, sondern nur ein Sandwit.”

“In Brighton würden wir wohl verheiratet sein, hätten erwachsene Kinder und würden dauernd streiten.” Crutch nimmt Aurelias Hand. “Aber so erleben wir jedes Jahr Flitterwochen.”

Aurelia befreit ihre Hand und zündet sich eine B&H an. Der Zug hält mit einem Ruck. Durch die Entgleisung anderer Züge und aufgrund diverser technischer Gebrechen der Lokomotive kann es schon vorkommen, dass der E&O ein paar Stunden verspätet ist – zum Vorteil der Passagiere, die mit Lachsbrötchen und trockenem Weißwein beruhigt werden. Bis zur Ankunft in Singapurs “Keppel Road” wird Aurelia noch ein Päckchen rauchen.

Wer nur Singapurs Zentrum und die Einkaufsmeile Orchard Road kennt, der wird den autoritär geführten Stadtstaat mit Kaugummiverbot und Prügelstrafe für nichts als eine riesige, klimatisierte Lugner-City halten. Dem flüchtigen Besucher erscheint dieses Singapur mit seinen achthundert Shopping-Malls zunächst tatsächlich als Abziehbild Südostasiens. Doch außerhalb der ausgetretenen Pfade brodelt eine vitale Mischung aus China, Arabien und Indien.

Im Zentrum des muslimischen Viertels, an der Arab Street, tragen die Jugendlichen ganz unironisch T-Shirts mit der Aufschrift “Enjoy Capitalism”. Die Shops quellen über vor billiger Seide, der Muezzin ruft durchs Mikrofon, die Fassaden sind geputzt und frei von Graffitis. Dafür notieren die Leute ihre subversiven Ideen auf die Innenseite der Klotüren: “Shop shop shop – pay pay pay.”

In Little India weht warmer Wind durch die überdachten Speisehallen, die zur Seite hin offen stehen, dem Äquatorialklima angepasst. Chinesische Lokale wie das “Fishball Noodle Yun Tun Mee” sind äußerst beliebt: Hier geht es einfach lockerer zu als beim Inder oder beim Muslimen. Das wissen auch die Inder und Muslime. Sie sitzen zufrieden um einen Flaschenwald Tiger Beer und betrachten amerikanische Wrestlingkämpfe im TV. Zwischen den Tischen spaziert ein Vogel mit gelbem Schnabel und gelben Beinen umher und pickt nach Krümeln.

Wenn man genau nachsieht, erkennt man an einem der hinteren Tische zwei alte Bekannte: Old Crutch und Aurelia. Sie nehmen “Lon Tong” zu sich, einen südchinesischen Imbiss aus gekochtem Ei, Kartoffelstücken, Chili und Frittaten in Kokossuppe.

Aurelia erzählt, sie spiele mit dem Gedanken, heute noch zur Lee Ah Leng Trading Company nach Chinatown zu gehen, um einen Singvogel zu erwerben. Mit ihm werde sie dann beim “Bird Singing Contest” teilnehmen. An ihrer Miene erkennt man nicht, ob sie das ernst meint, und ob es diesen Songcontest überhaupt gibt.

“Ich freue mich schon auf Bangkok.” Aurelia lächelt. “Old Crutch kennt übrigens den vollen Namen der Stadt.”

“Stadt der Engel”, zitiert ihr Begleiter, “die große Stadt, die Residenz des Smaragd Buddhas, die uneinnehmbare Stadt Ayutthaya von Gott Indra, die große Hauptstadt der Welt mit neun Edelsteinen, die glückliche Stadt, reich an riesigen königlichen Palästen, die der himmlischen Heimat ähnelt, in der die wiedergeborenen Götter wohnen, geschenkt und errichtet ...”

“Nichts wie hin!” Aurelia zieht an ihrer B&H. “Wir nehmen den E&O, Old Crutch!”


Der Eastern & Oriental Express (E&O) ist ein Zug von „Orient-Express Trains & Cruises“, einem Spezialveranstalter für exklusive Zug- und Flusskreuzfahrten (www.orient-express.com). Er fährt in beide Richtungen einmal wöchentlich, ab Singapur jeden Mittwoch, ab Bangkok jeden Sonntag.

Der Autor flog mit Royal Jordanian Airlines. RJA fliegt 5 mal wöchentlich Wien-Amman mit Verbindungen in den Nahen Osten, Afrika und Asien, zum Beispiel Bangkok. ROYAL JORDANIAN, Parkring 10/1/15, A-1010 Wien, 0043-1-513-5333, vietsrj@rja.com.jo, www.rja.com.jo.