Azoren

Universum 2009

 

Herren der Keksausstecher

 

Lisa Steiner kennt Pottwale persönlich. Schließlich ist sie ja auch schon einige Jahre in der Gegend. Die Wissenschaftlerin steht auf der vorderen Plattform des Katamarans „Physeter“. Drei Meter hohe Wellen schlagen gegen den Bug. Die Passagiere, freiwillige Mitarbeiter im Walforschungsprogramm, klammern sich an die Reling. Nur Lisa Steiner balanciert, steht ohne festen Halt wie ein Schiffsmast in der Mitte. „Flexible Knie“, kommentiert sie ihre Balanceübung. „Meine Eltern hatten am Lake Michigan ein Boot“, erklärt die Wissenschaftlerin, um auf ihr Hauptthema überzuleiten, die Objekte ihrer Begierde: „Pottwal Nummer 1236 war zum Beispiel 2003 bereits das achte Mal hier, seitdem sahen wir ihn nicht mehr. Oder nehmen wir Nummer 0019 – den beobachten wir schon seit den Achtziger Jahren. Er hängt meist bei der Insel Pico herum.“

Die „Personal ID“ bestimmt sie anhand der Zackung der Rückenflosse, die bei jedem Individuum unterschiedlich ist – eine charakteristische Kontur wie ein Fingerabdruck. Bis vor wenigen Jahren musste Lisa tausende Fotos mit freiem Auge vergleichen – heute verknüpft sie die Daten mit dem Computerprogramm „Europhukes“, der weltweit größten Datenbank für Pottwale. „Einige Individuen sieht man bei uns, aber zu anderen Zeitpunkten bei Madeira, auf den Kanarischen Inseln oder in Norwegen.“ Auf Englisch heißen Pottwale „sperm wahles“ wegen des Walrats, vulgo dem Spermaceti-Tauchorgan, dessen Substanz lange Zeit für eine gigantische Spermareserve gehalten worden war.

Wurde ein bestimmter Pottwal längere Zeit nicht gesichtet, besteht kein Grund zur Sorge: Moby Dicks Nachfolger halten durch. Die mit bis zu 25 Meter Länge größten Lebewesen der Erde wiegen nicht nur an die 60 Tonnen, haben ein zehn Kilogramm schweres Gehirn, ein Herz von der Größe eines Kubikmeters und einen zweihundert Meter langen Darm, sondern sie werden auch an die hundert Jahre alt. Kein Menschenauge sah diese Räuber je auf ihren Beutezügen – sie sind zu schnell für Kameras, und sie tauchen bis zu drei Kilometer tief. Wie die Physeter macrocephalus das anstellen, ist nicht geklärt, jedenfalls hat ihr Blut einen extrem hohen Hämoglobinanteil. Was sie unten treiben? Sie jagen Tintenfische, und den rätselhaften Riesenkalmar. Die Haut von Pottwalen weist gelegentlich Kampfspuren auf, Abdrücke von Saugnäpfen. Wie solche Kämpfe ablaufen, ist unbekannt. Abgründiges Unterwasserleben: Auch bei der Paarung wurden die Tiere noch nie gefilmt.

 

Lisas Partner Chris steuert die „Physeter“ durch hohe Wellen, während das Hydrophon das charakteristische Klicken der Pottwale in seine Kopfhörer überträgt – das heißt, im Umkreis von sieben Meilen sind Pottwale! Nun müssen Lisa und Chris nur noch den Ort des Auftauchens erraten: Nach einem 45-minütigen Tauchgang holen die Großsäuger acht bis zehn Minuten Luft, blasen ihre Fontänen, schöpfen Kraft. „Pottwal auf two o´clock!“, ruft Chris. Rechts vor dem Bug zeichnet sich zwischen den Wellen der glänzend schwarze Rücken eines Giganten ab – fast unwirklich. Weiter vorne erscheint ein zweiter, mit einem Kalb. „Neugeborene sind schon vier Meter lang – einmal sind wir bei einer solchen Fahrt auf eine Pottwal-Plazenta und einen Geburtssack gestoßen.“ Lisa balanciert, konzentriert sich auf den einmaligen Moment, in dem der Gigant knapp vor dem Untertauchen seine Schwanzflosse in die Luft reckt. Die Freiwilligen sind zunächst einmal vom Anblick überwältigt und fotografieren unscharf oder daneben.

„Die Pottwale empfinden uns nicht als feindlich“, erklärt Lisa, „aber sie wissen natürlich, dass wir hier sind. Wir nähern uns auf höchstens fünfzig Meter, und wir kommen ihnen nie frontal entgegen.“ Ein ausgewachsener Pottwal ist ja länger als der Katermaran. „Kämen wir näher, würden sie kurz ab- und weiter vorne wieder auftauchen. Sie wären in ihrer Aktivität gestört. Ihre Auftauchphase dauert nicht mehr 8 Minuten, sondern, sagen wir, 12 oder 13. Sowas bringt sie durcheinander.“ Pottwale sind 16 von 24 Stunden täglich auf der Jagd, die Zeit muss gut eingeteilt sein.

Die Gruppe bei der „Physeter“ besteht aus drei Weibchen, einem jungen Männchen und einem Jungen. Pubertierende Männchen hängen gerne in „Junggesellengruppen“ herum, in denen wohl auch ihre Art von Junggesellenspaß herrscht. Erwachsene Männchen ziehen meist allein durch die Meere. Der einst gängigen Meinung, männliche Pottwale hielten sich einen “Harem”, widerspricht Lisa: „Das kann man überhaupt nicht so sagen. Weil die Männchen sind ja kaum je da, was wären das also für Harems?“

 

Vor zwanzig Jahren kam Lisa das erste Mal auf die Azoren-Insel Faial, mit einem Walforschungsboot namens „Song of the Whale“. Seit fünf Jahren betreiben sie und Chris die „Casa do Lado“, eine Pension in der Altstadt von Horta. Die Herberge dient einem einzigen Zweck: durch Einnahmen aus dem Tourismus ihre fast täglichen Ausfahrten in den Sommermonaten möglich zu machen. „Lisa hat sich für ihr Leben mit den Walen zwei Wochen nach dem Verlassen des College entschieden, sie wird das ihr ganzes Leben machen“, sagt Chris. Es gibt weltweit nicht mehr als zehn Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Die Vernetzung ist von großer Bedeutung. „Unser Part ist nicht unwichtig, weil wir die Einzigen auf den Azoren sind, die das untersuchen.“

Chris ist fast ebenso lang auf dieser Insel wie Lisa. Der Brite kam als Schiffsingenieur. Nach 15 Jahren in der neuen Heimat spricht er noch immer kaum Portugiesisch. Trotzdem kann er den wettergegerbten Seemännern am Hafen, ohne einen ganzen Satz zu artikulieren, mit Brummgeräuschen in mehreren Tonlagen alles kommunizieren, was er möchte: Wetter, Wind, Wale. Pottwale wurden auch sein Lebensthema geworden.

 

Ein- bis zweimal im Jahr haben Lisa und Chris freiwillige Helfer zu Gast: der alternative Reiseveranstalter „Biosphere Expeditions“ organisiert Expeditionen zur Datensammlung. Unter anderem für Presence/Absence-Studien der Region, von den Meeresschildkröten bis zu den aufgeregten Grünschnabelsturmtauchern, die wie Clowns auf Helium klingen. Zwanzig oder dreißig Augen sehen einfach viel mehr als vier. Ausgebildet per Crash-Kurs füllen die Freiwilligen die Datenbögen aus und helfen, das größte Rätsel der Weltmeere ein wenig zu lüften. Lisas Zählungen werden dringend benötigt – Befürworter des Walfangs argumentieren mit übertrieben hohen Populationszahlen, bis zu zwei Millionen. „Mag sein, dass es 300.000 Pottwale in den Weltmeeren gibt“, schätzt Lisa, „jedenfalls sind sie mobiler als wir dachten.“ Bis in die Achtziger Jahre stand in Faial noch eine Walfabrik. Heute ist Pottwaljagd – mit wenigen Ausnahmen – verpönt, doch setzen Umweltverschmutzung, Fabrikschiffe und vor allem akustische Belästigung den Tieren zu. „Die Pottwale kommunizieren durch Klicks, das verträgt keine Störgeräusche“, erklärt Chris, „mit Echolotung suchen sie nach ihrer Nahrung. Aber auch, wenn sie an der Oberfläche treiben, gibt es eine Kommunikation zwischen ihnen – die sogenannte Coda.“ Das sind soziale Lautfolgen, in für Menschen undurchschaubaren Rhythmen, in denen die großen Säuger ihre Feste feiern.

 

25 Spezies von Walen und Delfinen wurden auf den Azoren nachgewiesen – auch solche, die man nie erwartete. Natürlich gibt es da die großen Momente. Einer davon war der 5. Jänner 2009. Die Küstenwache rief an, vor Pico sei ein „North Atlantic Right Whale“ gesichtet worden, einer der seltenen Atlantischen Nordkaper – der erste seiner Art auf den Azoren seit 1880. „Unser Boot war gerade in Reparatur, wir fuhren bei einem anderen mit, es war unglaublich aufregend!“ Lisa schoss ihr Beweisfoto. „Von ihnen gibt es im Atlantik nur noch 350 Stück.“

Die Bedeutung der Wale für das ökologische Gleichgewicht im Meer sei teilweise noch gar nicht erforscht. Wenn Wale sterben, absinken und auf den Meeresboden prallen – kein geräuschloses Ereignis – lockt die Erschütterung Lebewesen an. Der tote Wal bildet am Meeresgrund ein eigenes Ökosystem, das jahrelang intakt bleibt. Deshalb werden heutzutage gestrandete Wale, nachdem sie verendet sind, oft noch aufs Meer hinausgezogen. Früher machte man das Gegenteil: in Faial wurde der Walrat zur Produktion von Exportöl verwendet. An der Küste von Horta gab es eine Walfabrik, die heute als Museum dient.

Auf den Azoren sind die Gewöhnlichen Delfine in Mehrheit, das ganze Jahr über, in Schulen von bis zu 1.500 Individuen. Sie lieben es, rund um die „Physeter“ herumzutollen. Ihre Gesamtanzahl in der Region lässt sich schwer beurteilen – zu viele, um sie zu individualisieren. Gelegentlich mischen sich Streifendelfine unter die Gewöhnlichen und surfen in der Bugwelle der „Physter“ mit. „Streifendelfine sind recht scheu“, erklärt Lisa, „nur ganz selten ist er eine oder andere mutig genug, zur Bugwelle zu kommen – meist, wenn es ihm ein Gewöhnlicher vormacht.“

Lisa Steiner registriert Große Tümmler („Bottlenose Dolphins“), bisweilen tauchen auch die hübschen Rundkopfdelphine auf, deren Alter man auf den ersten Blick erkennt – die Älteren unter ihnen haben viele weiße Kratzspuren auf der Haut. Ob Großer Schwertwal und Kleiner Schwertwal, Seiwal, Buckelwal und Zwergwal, alle waren da. Selten sind Finnwale, auch „Lügner des Meeres“ genannt – unter Wasser erreichen sie 20 Knoten, jagen in dieser Hochgeschwindigkeit Shrimps und Konsorten, aber an der Oberfläche sind sie bekannt für ihre gemächlichen Bewegungen.

Doch der König des Meers um Faial ist und bleibt der Pottwal. Manchmal springt der eine oder andere vertikal aus dem Wasser – und Lisa knipst. „Breaching”, lautet ihr Fachausdruck dafür. Wieso sie das tun? „Wir wissen es nicht. Kommunikation? Wettbewerb? Oder einfach nur Spaß?“ An manchen dieser großen Säuger hängen, deutlich sichtbar, die „cookie cutter sharks“, die Keksausstecher-Haifische, Schmarotzer, die sich Wale in warmen Gewässern zuziehen. Während sie das alles erzählt, sind die Wellen höher geworden. Lisa Steiner benötigt keinen Ausfallsschritt. Sie hat das nicht einmal bemerkt.

Da sind wieder welche! „Pottwale auf 9 o´clock!“, ruft Chris vom Steuerrad. „Na, wie geht’s?“, fragt Lisa ihre Freiwilligen und zückt die Kamera, „irgendjemand mit flauem Magen? Nein? Ausgezeichnet. Bitte die Datenbögen rausholen!“

 

 

Der Autor reiste mit „Biosphere Expeditions“, www.biosphere-expeditions.org, die zwei Mal jährlich 9-tägige Expeditionen mit Freiwilligenarbeit im Walforschungsprojekt von Lisa Steiner veranstalten.