Äthiopien
„Der Standard“, 22. April 2005
Martin Amanshauser war im Norden und im Zentrum Äthiopiens, besuchte vier Hauptstädte und lief mit den zukünftigen Olympiasiegern über den Meskel Square in Addis Abeba.
Addis Abeba, Zentrum, Meskel Square, 6 Uhr morgens. Spärlicher Frühverkehr, am Horizont mündet das Nachtschwarz in gelbgraue Dämmerung. Was sind das für Bewegungen? Zehn, fünfzig, hundert Menschen laufen durch die Erdrinnen des Amphitheaters, das den Platz in einem kreisförmigen Halbmond umfasst. Eine Demonstration, ein Spiel, ein Tanz? Nein, es sind Hobby- und Profijogger, sie nützen die Morgenstunden vor Bürobeginn zum Lauftraining.
Der äthiopische Lauftraum zielt auf den Olympiasieg. Haile Gebrselassie, der Held der 10.000 Meter, machte es vor. Athen 2004 brachte zwei äthiopische Goldmedaillen für einen 22-jährigen und eine 20-jährige. „Diese Luft härtet ab“, meint Bekele, Shootingstar des Laufwunders, „in Addis, Meereshöhe 2.400 Meter, herrschen ideale Trainingsbedingungen!“ Wer mitlaufen will Besucher sind willkommen kommt rasch ins Schnaufen. Um sieben Uhr morgens ist der Meskel Square dann von mehr als fünfhundert Läufern bevölkert.
Erfolgsmenschen wie Bekele stehen für eine neue äthiopische Epoche die des Aufbruchs. Die Krisenzeit ist vorbei, wenn auch ein Teil der Bevölkerung weiterhin von der manchmal nützlichen, oft kontraproduktiven Lebensmittelhilfe abhängig ist, und der christlich-orthodoxe, von Amharen dominierte Quasi-Einparteienstaat noch längst keine gerechte Umverteilung gewährleistet. Doch das 70 Millionen-Einwohner-Land blickt nach Beendigung eines ruinösen Grenzkriegs gegen Eritrea, das sich 1993 abgespalten hatte, mit Optimismus in die Zukunft.
Das Zusammenleben zwischen Christen (ca. 40%) und Muslimen (ca. 40%) funktioniert weitgehend. Auf einer Fläche von 14 Mal Österreich erwirtschaftet man die Hälfte der Devisen durch Kaffeeexport, dazu kommt Gerste und Mais, und vor allem Taff, Basis des palatschinkenartigen Nationalgericht Injera, ein säuerlich-zitroniger Fladen, das man um Schmorfleisch („Wot“) wickelt, mit herzhaft pfeffrigen Zwiebelsaucen oder kühlem Joghurt.
Addis Abeba manifestiert das Selbstbewusstsein eines Landes mit wenig Kolonialleiden. Lediglich zwischen 1936 und 1941 stand das gesamte Gebiet unter italienischer Verwaltung, Vizekönig General Graziani scheiterte mit seiner Unterjochungspolitik, es war nicht das erste italienische Scheitern. Im Zentrum, nahe der imperialen Churchill Avenue, erinnert die Reiterstatue König Meneliks II., von den Italienern kurzfristig vom Sockel geholt und versteckt, an die katastrophalste Niederlage einer Kolonialmacht in Afrika die historische Schlacht bei Adua (1896). Heute ist das glänzende Geschichte.
Heute wird modernisiert, die alten Slums durch Wohnbau ersetzt. „Diese Slums werden planiert“, sagt Bullo Tedeje, Manager im Hilton, beim Blick aus dem sechzehnten Stock auf arme Viertel. „Bei Modernisierungen gibt es immer Gewinner und Verlierer. Sonst hieße es nicht Fortschritt.“ Die äthiopische Gegenwart, eine Mischung aus Ambition und Hoffnung. Seit Meinungsführer wie der Lonely-Planet-Gründer Tony Wheeler das Land als den Geheimtipp des Jahrzehnts bezeichnen, kommt auch der Tourismus in Schwung durch den unwiderstehlichen Reiz des frischgrünen Lands mit seinen warmen Tagen und kühlen Nächten.
Addis ist kein Moloch, die übersichtliche Stadt pflegt ihren Lebensstil am quirligen Mercato ebenso wie im Piazza-Viertel mit seinen Kleinhandwerkershops und dem Toprestaurant „Castelli“. Die Jugend trifft sich in der Konditorei „La Parisienne“. Auf den Gartentischen steht Backwerk und Spris, das Fruchtsaftgetränk in den Nationalfarben, Avocado, Erdbeer, Papaya. Hier verbinden sich italienische und äthiopische Kaffeekultur zu einem Schaumcapuccino-Meisterwerk. Auf dem Parkplatz vor dem Lokal ist der Teufel los: Neuankömmlinge hupen den Kellnerinnen, die schieben Tabletts durch die heruntergelassenen Fenster ins Wageninnere ein „Drive in Croissant“.
Addis vibriert, die verschlafenen Ex-Hauptstädte des Nordens bieten hingegen Kultur. Aksum, Städtchen mit großer Vergangenheit: Rätselhafte Granitstelen aus vorchristlicher Zeit starren in den Himmel, nur eine fehlt, die haben die Italiener einst nach Rom geschleppt und nie zurückgegeben. Auf Aksums heiligen Boden soll in einer Geheimkapelle die verschollene israelitische Bundeslade liegen. Urkönig Menelik soll sie ins Land gebracht haben, dessen Eltern laut dem Epos „Kebre Nagast“ eine wunderschöne Liebesgeschichte verbindet.
Makeda, die legendäre Königin von Saba, war zu einem Abendmahl bei König Salomon in Jerusalem geladen. Sie ließ sich auf eine Wette ein sollte sie einen Gegenstand in seinem Palast anrühren, habe er Anrecht auf Geschlechtsverkehr. Der Gerissene mischte Chili ins Abendessen, die Durstige ging nachts an einen Wasserkrug erwischt. Aus der nunmehr „legitimen“ Vereinigung ging Menelik hervor, auf den die christlichen Herrscher bis Haile Selassie, König von 1930 bis 1974, ehemals Ras Tafari, ihren Stammbaum zurückführten.
Lalibela ist der Name eines matschigen Streudorfs in einer gebirgigen Region, am Fuß eines Viertausenders. Hier steht die atemberaubendste Sehenswürdigkeit Ostafrikas: elf in den Steinfelsen geschlagene Kirchen. Der gleichnamige mittelalterliche König Lalibela (1181-1221, so genannt, weil als Babyprinz ein Bienenschwarm seinen Prinzenkopf umschwirrte, ohne ihm Leid anzutun), ließ diese urtümlichen Bauwerke, mit Höhlensystemen, Labyrinthen von verlotterter Schönheit, in Rekordzeit errichten deshalb wird auch vermutet, dass die wohlgesonnenen Engel das Werk nachts fortsetzten.
Heute sind die kühlen, rotsteinigen Kirchen mit ihren gelben Moosflechten, in denen man sich mit Taschenlampen zurechtfindet, von Mönchen und Guides bevölkert. Der Kirchenvorsitzende hält den Besuchern ein massives Eisenkreuz zum Foto-Shooting entgegen er setzt nur vorher die Sonnenbrille auf, „for protection against the flash“.
Das Weltwunder der Gebetshäuser in den Felsen ist Einnahmequelle und Fluch des Dorfs Lalibela. Gruppen von Guides, Bettlern und Kindern umringen Neuankömmlinge, bieten Glitzersteine an, Maria-Theresien-Taler, Chilischoten. Um die Besucher zu beeindrucken, verweisen die Kinder auf ihre Schulbegeisterung das allerorts beliebte „I am student“ schwingt sich im Mund eines 5-jährigen schon einmal zu einem begeisterten „I am very student!“ empor. „You, you!“, rufen äthiopische Kinder, manche sind schon umgestiegen auf die modernere Variante „Hello! Hello!“
Keine arme Stadt ist Gondar, historische Metropole aus dem 17. Jahrhundert, mit ihrem romantischen „Gemp“, einem halbwilden Rasengebiet, auf dem die Reste kaffeebrauner Burgen herumstehen, portugiesische Mittelaltertrümmer mit äthiopischem Fürstenhaus-Grundrissen. „Verglichen mit dem Gemp“, heißt es in Gondar selbstbewusst, „sind alle anderen Orte in Äthiopien Nester aus Gras.“ In Gondar leben Christen und Muslime auf teilweise jüdisch geprägtem Boden, Abbild der Gesellschaft. Das Falasha Village, einige Kilometer außerhalb von Gondar, pflegt das Gedenken. Die letzte Jüdin, Mariye Nigussie, 45, verkauft fröhlich Statuetten. Sie zog wie viele äthiopische Juden nach Israel, doch ihre Mutter starb und sie kehrte zurück: „Was soll ich dort? Meine Freunde sind hier.“
Von Gondar erreicht man in wenigen Stunden die Simien Mountains, kantige Klüfte und Felsspalten, grün und gelb überwachsen. Die missglückte Metapher „Dach von Afrika“ beschreibt die bizarren Fels- und Grünformationen der Wunderlandschaft nur unzulänglich. Auf den Grünflächen dieses dramatischen Landschaftsbilds leben Gruppen von Dschelada-Pavianen, friedliche Grasfresser mit dem „blutenden Herzen“ bei sexueller Erregung, bei den Weibchen auch zur Zeit der Monatsblutung pulsiert ihr durchsichtiger Fleck auf der Brust an.
Südlich von Gondar liegt der Tanasee, dessen mattgrün-hellbraune Fläche von der Spur eines Papyrusboots zerschnitten wird. Zerihun Worku und sein Sohn Gebre rudern ihr Zwei-Mann-„Tanqua“ durch die Nacht, voll beladen mit Brennholz Akazie und Olivenbaum. Der äthiopische Energiebedarf wird zu drei Vierteln durch die Verbrennung von Holz- und Holzkohle gedeckt. Der Wald schrumpft, als Ersatz pflanzt man den wasserfressenden, rasch wachsenden Eukalyptus. Das führt zu Erosion und nimmt die Lebensgrundlage Zerihun Workus Tageswerk spiegelt ein nationales Problem.
In der Dämmerung sind er und sein Sohn von der vorgelagerten Halbinsel aufgebrochen, nach sechs Stunden Fahrt werden sie Mitternachts die 100.000 Einwohner-Stadt Bahir Dar erreichen. Am nächsten Morgen bieten sie ihre Ladung am lokalen Markt an. Voraussichtlicher Erlös: 80 Birr, ungefähr 8 Euro. Danach werden sie sechs Stunden zurückrudern, dorthin, wo die Frauen unterdessen Holz gesammelt haben für die nächste Überfahrt.
Der Autor flog mit Ethiopian Airlines, AVIAREPS AG, Argentinierstraße 2, 1040 Wien, 00431-585363030, www.aviareps.com. Die Reise war eine Mission auf Initiative des BMaA und der österreichischen Botschaft in Addis Abeba. Die Unterkünfte wurden von der Äthiopischen Tourismuskommission zur Verfügung gestellt(ETC). Man bucht bei: www.verkehrsbuero.at, www.ikarus-dodo.at, www.selektiv-reisen.at, www.geo.at, www.frohbotinnen.at, www.poncho.at
„La Parisienne“, Konditorei und Bar, Addis Abeba, an der Kreuzung Bole Road und Meskel Flower Road.
Zum Problembereich „Lebensmittelhilfe“: siehe „Der inszenierte Hunger“, Die Zeit, 16.4.03, der sich unter anderem auf eine Studie des “Grain Market Research Projekts“ beruft.